Wenn ich ein Foto betrachte beginnt meine Fantasie zu tanzen. Geschichten entstehen, die Bilder erwachen. Hier verbinde ich meine Liebe zum Polaroid mit der Liebe zur Satztischlerei. Die Bilder sind teilweise von mir, teilweise von komplett fremden Personen aus der www.polanoid.net - community "geliehen". Fordere meine Fantasie heraus und sende mir ein spannendes Polaroid! Hier wirst Du lesen können, wie Dein Bild zum Leben erwacht!
Saturday, March 10, 2012
KURSALON HüBNER
Er spürte nichts von der Kälte, die sich langsam von den Steinstufen herauf in ihm ausbreitete. Er durfte nichts spüren. Jetzt galt es nur abzuwarten und dieses Drama zu Ende zu bringen. Ein Drama, von dem er nicht wusste, wie es ausgehen könnte. Oder sollte. Ruhig blieb er sitzen, die Arme um die Beine geschlungen. Die Stirn auf die Knie gepresst.
Plötzlich hörte er Stimmen. Schritte. Eine Tür fiel ein paar Etagen über ihm ins Schloß. Die Schritte näherten sich. Er schaute nicht auf, lauschte nur. Für einen kurzen Moment war es ruhig, dann hörte er, wie ein paar Schritte sich wieder entfernten. Nach oben. Eine Türklingel und Stille. Er hörte seinen Herzschlag und atmete nicht, bis er die Stimme seines Großvaters im Hausflur hörte. Die Schwere seines Körpers in den Schlapfen die Treppen hinuntereilte. Bis zur Kellertreppe. Auf der oberen Stufe blieb er stehen. Alt und grauhaarig. Holte zweimal tief Luft und fragte dann heiser: "Theo?"
Theo antwortete nicht gleich. Mit seinen sieben Jahren wusste er nicht, wie er mit dem Gefühl dieser Ertapptheit zurechtkommen sollte. Er war fast froh, dass es vorbei war, er war auch gar nicht mehr böse auf seinen Großvater. Aber konnte er das jetzt so einfach hinter sich lassen und mit ihm nach oben gehen, als wäre nichts geschehen?
"Theo!" sagte sein Großvater erneut. Etwas bestimmter.
Theo spürte nun die Kälte in jeder Faser seines kleinen Körpers. Er wollte nach Hause. Vorsichtig stand er auf, die Knie wackelten ein wenig. Wie lange hatte er hier unten verweilt? Er drehte sich um und hob langsam den Kopf. Als er seinen Großvater erblickte, erschrak er. Müde und traurige Augen sahen ihn an. Erleichterung und gleichzeitige Enttäuschung. Er kannte den Blick nicht. Großvater war so nicht.
Warum er ausgerechnet jetzt diese Erinnerung durch seinen Kopf laufen ließ, wusste er nicht. Hier oben über dem Skogarfoss Wasserfall. Einem Ort wie aus dem Bilderbuch. Das Wasser stürzte laut und schallend in die Tiefe, Kleine Nieseltropfen schwebten über dem Abgrund. Die Zelte und Campingwagen dort unten so klein wie Ameisen. In der Ferne nur zu vermuten: das Meer. Island.
Doch Theos Kopf hämmerte. Er hatte Durst und war müde. Unglaublich müde. Der Rucksack lag träge und schwer neben ihm. Noch 23 Minuten, dann musste er wieder unten stehen an der Holzhütte, wo der Bus ihn wieder zurückfahren würde. Zurück nach Reykjavik. Zurück ins Hostel. In eine weitere bier- und vodkagetränkte Nacht. Der Ausflug war einer von vielen. Einer von vielen, die er verkatert und übermüdet ertrug. Bei denen er mit der Digitalkamera wild um sich klickte, um überhaupt eine Erinnerung an das zu haben, was sich an Landschaft und eindringlicher Schönheit vor seinen Augen darstellte.
Und in all das quetschte sich nun die Erinnerung an einen Nachmittag mit seinem Großvater. Er war sauer gewesen. Richtig sauer. Weil sie Tag für Tag in dieses Kaffeehaus gingen, dort die alten Freunde seines Großvaters trafen und Karten spielten. Es war ihm zu fad. Das Spaghettieis, mit dem ihn sein Großvater immer lächelnd lockte, hing ihm zum Hals raus und die Kartenspiele mit den alten Herren waren längst nicht mehr aufregend. Er wollte das machen, was seine Freunde in den Sommerferien machten. Ans Meer fahren, in Hotels wohnen, am Strang liegen. Er wollte auch wissen wie es war, in einem richtigen Flugzeug zu sitzen. Seine Eltern hatten ihm das auch versprochen, doch dann kam das Geschwisterchen und es war sowieso alles anders. Und so hockte er wieder bei Opa. Aß Spaghettieis und spielte Karten. An diesem Nachmittag jedoch war es einmal zu viel und so war er davongerannt.
Warum ihn sein Großvater nie gesucht hatte und ihn erst, nachdem die neugierige Frau Kadi bei ihm geklingelt hatte, heraufholte, hatte er sich nie gefragt. Erst jetzt kam es ihm in den Sinn, dass sein Großvater wohl die ganze Zeit wusste, wo er war und ihn einfach schmoren ließ. Das schien ganz der alte sture Kopf zu sein, den er in Erinnerung hatte. Aber in welcher?
Das einzige Bild, was seit Jahren in seinen Kopf hüpfte, wenn er an seinen Großvater dachte, war dieser traurige, enttäuschte Blick, als er dort oben auf der oberen Stufe der Kellertreppe stand. Es hatte etwas von dem sonderbaren und geheimnisvollen Band zwischen ihm und seinem Großvater genommen. Seitdem war er nur noch selten in den Ferien bei ihm gewesen und hatte die Erinnerung stattdessen mit Reisen und Abenteuern, wie er sie für lebenswert hielt, übermalt. Denn sein Opa war kein Reisender. Er brauchte das nicht. Er reiste lieber auf dem Papier. Mit seinen Freunden. Täglich trafen sie sich im Kursalon Hübner und tauschten sich aus. Sie waren alles mehr oder weniger erfolgreiche Autoren. Manche ihrer Texte erschienen in den lokalen Zeitungen, manche sogar in Anthologien. Aber keiner von ihnen schaffte jemals den Bestseller, von dem sie immer sprachen. Doch das schien sie nicht weiter zu stören. Sie schrieben weiter fröhlich ihre Geschichten, die sich in aller Welt zutrugen. Das war ihre Art zu Reisen. Und je mehr Theo jetzt darüber nachdachte, umso mehr gefiel ihm diese Art. Sie war günstiger, weniger aufwändig und vor allem - und das spürte er schmerzhaft - war sein Großvater immer mit seinen besten Freunden gemeinsam unterwegs.
Er saß hier allein. Schaute in die Ferne und löschte den Durst mit durchgeschüttelter Cola. Natürlich hatte er gestern abend wieder neue sogenannte Buddies kennengelernt. Wie jeden Abend. Doch sie alle waren auf der Durchreise, hatten Ausflüge gebucht und waren so schnell, sie am Flughafen gelandet waren, auch schon wieder weg. Traveller. Backpacker. Die modernen Reisenden.
Sein Facebook Account ging über vor Freunden, sein emailpostfach jedoch schwieg. Hin und wieder eine Sammelmail einer Reisebekanntschaft mit neuesten updates und Fotos. Unpersönlich und fremd. Das war es. Von den Freunden daheim hörte er nur wenig. Die meisten waren nach der Schule zum Heer und dann direkt in die Lehre oder ins Studium abgetaucht. Er wollte die Welt bereisen, und so jobbte er sich zwei Jahre quer durch Wien, bis das Geld ausreichte für einen Anfang. Dann ging es Los. London und England, ein kurzer Streifzug nach Wales, Edinburgh und die Highlands, Irland, Orkney und die Shetlands. Von da direkt nach Skandinavien. Von Island aus wollte er nach Amerika, dann Asien und letztendlich Australien und Neuseeland. Irgendwo zwischendrin müsste er sich wieder einen Job suchen, aber bisher hatte das Geld gereicht.
Ihm wurde schlecht. Schlecht bei dem Gedanken daran, in zwei Tagen den weiten Flug nach Amerika anzutreten, um dort weiter allein in Bussen, Bahnen und Mietautos die Landschaft zu streifen, in unbequemen Hostelbetten zu schlafen und von zu viel Alkohol zu Kopfschmerzen mit sich zu tragen. Er wollte heim. Und je mehr er darüber nachdachte, je mehr Cola er in sich hineinschüttete, um dieses Gefühl zu ertränken, umso klarer wurde ihm, dass es das einzig Sinnvolle war, was er tun konnte. Er wollte seinen Großvater sehen, wollte ihm von seiner Reise erzählen, von dem, was er gesehen und erlebt hatte und mit ihm die Dinge umschreiben, an die er sich nur dunkel oder gar nicht erinnern konnte. Die Fotos konnten eine wundervolle Vorlage für sie sein, so wie die Fotos aus den Reisekatalogen, die sein Großvater immer als Anregung für seine Geschichten verwendet hatte.
Er sah sie schon vor sich, den alten Espresso-Fritz, den langen Karl, den Pfeife rauchenden Heinz, die Tiroler Zwillinge Emil und Edgar, den stummen Gerhard, den kleinen Erich und mittendrin seinen Großvater Bernhard. Wie sie sich freuen würden, wenn er ihnen neuen Stoff lieferte für ihre skurrilen Geschichten.
Er lachte ein wenig bei dem Gedanken, die alten Herren wiederzusehen. Dann erschrak er. Die Straße entlang schlängelte sich ein weißer Reisebus der Firma Reykjavik Excursions. In zwei Minuten war Abreise. Er sprang auf, sein Kopf stöhnte aber Theo ignorierte ihn. Etwas zu schwungvoll schmiss er sich den Rucksack, der plötzlich viel leichter schien, über die Schultern, und eilte die Stufen hinab, an den Touristen vorbei, die ihn missmutig ankeuchten.
"Entschuldigung." sagte er immer wieder. "Entschuldigung, aber ich muss nach Hause."
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