Saturday, March 10, 2012

KURSALON HüBNER



Er spürte nichts von der Kälte, die sich langsam von den Steinstufen herauf in ihm ausbreitete. Er durfte nichts spüren. Jetzt galt es nur abzuwarten und dieses Drama zu Ende zu bringen. Ein Drama, von dem er nicht wusste, wie es ausgehen könnte. Oder sollte. Ruhig blieb er sitzen, die Arme um die Beine geschlungen. Die Stirn auf die Knie gepresst.

Plötzlich hörte er Stimmen. Schritte. Eine Tür fiel ein paar Etagen über ihm ins Schloß. Die Schritte näherten sich. Er schaute nicht auf, lauschte nur. Für einen kurzen Moment war es ruhig, dann hörte er, wie ein paar Schritte sich wieder entfernten. Nach oben. Eine Türklingel und Stille. Er hörte seinen Herzschlag und atmete nicht, bis er die Stimme seines Großvaters im Hausflur hörte. Die Schwere seines Körpers in den Schlapfen die Treppen hinuntereilte. Bis zur Kellertreppe. Auf der oberen Stufe blieb er stehen. Alt und grauhaarig. Holte zweimal tief Luft und fragte dann heiser: "Theo?"

Theo antwortete nicht gleich. Mit seinen sieben Jahren wusste er nicht, wie er mit dem Gefühl dieser Ertapptheit zurechtkommen sollte. Er war fast froh, dass es vorbei war, er war auch gar nicht mehr böse auf seinen Großvater. Aber konnte er das jetzt so einfach hinter sich lassen und mit ihm nach oben gehen, als wäre nichts geschehen?

"Theo!" sagte sein Großvater erneut. Etwas bestimmter.
Theo spürte nun die Kälte in jeder Faser seines kleinen Körpers. Er wollte nach Hause. Vorsichtig stand er auf, die Knie wackelten ein wenig. Wie lange hatte er hier unten verweilt? Er drehte sich um und hob langsam den Kopf. Als er seinen Großvater erblickte, erschrak er. Müde und traurige Augen sahen ihn an. Erleichterung und gleichzeitige Enttäuschung. Er kannte den Blick nicht. Großvater war so nicht.


Warum er ausgerechnet jetzt diese Erinnerung durch seinen Kopf laufen ließ, wusste er nicht. Hier oben über dem Skogarfoss Wasserfall. Einem Ort wie aus dem Bilderbuch. Das Wasser stürzte laut und schallend in die Tiefe, Kleine Nieseltropfen schwebten über dem Abgrund. Die Zelte und Campingwagen dort unten so klein wie Ameisen. In der Ferne nur zu vermuten: das Meer. Island.

Doch Theos Kopf hämmerte. Er hatte Durst und war müde. Unglaublich müde. Der Rucksack lag träge und schwer neben ihm. Noch 23 Minuten, dann musste er wieder unten stehen an der Holzhütte, wo der Bus ihn wieder zurückfahren würde. Zurück nach Reykjavik. Zurück ins Hostel. In eine weitere bier- und vodkagetränkte Nacht. Der Ausflug war einer von vielen. Einer von vielen, die er verkatert und übermüdet ertrug. Bei denen er mit der Digitalkamera wild um sich klickte, um überhaupt eine Erinnerung an das zu haben, was sich an Landschaft und eindringlicher Schönheit vor seinen Augen darstellte.

Und in all das quetschte sich nun die Erinnerung an einen Nachmittag mit seinem Großvater. Er war sauer gewesen. Richtig sauer. Weil sie Tag für Tag in dieses Kaffeehaus gingen, dort die alten Freunde seines Großvaters trafen und Karten spielten. Es war ihm zu fad. Das Spaghettieis, mit dem ihn sein Großvater immer lächelnd lockte, hing ihm zum Hals raus und die Kartenspiele mit den alten Herren waren längst nicht mehr aufregend. Er wollte das machen, was seine Freunde in den Sommerferien machten. Ans Meer fahren, in Hotels wohnen, am Strang liegen. Er wollte auch wissen wie es war, in einem richtigen Flugzeug zu sitzen. Seine Eltern hatten ihm das auch versprochen, doch dann kam das Geschwisterchen und es war sowieso alles anders. Und so hockte er wieder bei Opa. Aß Spaghettieis und spielte Karten. An diesem Nachmittag jedoch war es einmal zu viel und so war er davongerannt.
Warum ihn sein Großvater nie gesucht hatte und ihn erst, nachdem die neugierige Frau Kadi bei ihm geklingelt hatte, heraufholte, hatte er sich nie gefragt. Erst jetzt kam es ihm in den Sinn, dass sein Großvater wohl die ganze Zeit wusste, wo er war und ihn einfach schmoren ließ. Das schien ganz der alte sture Kopf zu sein, den er in Erinnerung hatte. Aber in welcher?

Das einzige Bild, was seit Jahren in seinen Kopf hüpfte, wenn er an seinen Großvater dachte, war dieser traurige, enttäuschte Blick, als er dort oben auf der oberen Stufe der Kellertreppe stand. Es hatte etwas von dem sonderbaren und geheimnisvollen Band zwischen ihm und seinem Großvater genommen. Seitdem war er nur noch selten in den Ferien bei ihm gewesen und hatte die Erinnerung stattdessen mit Reisen und Abenteuern, wie er sie für lebenswert hielt, übermalt. Denn sein Opa war kein Reisender. Er brauchte das nicht. Er reiste lieber auf dem Papier. Mit seinen Freunden. Täglich trafen sie sich im Kursalon Hübner und tauschten sich aus. Sie waren alles mehr oder weniger erfolgreiche Autoren. Manche ihrer Texte erschienen in den lokalen Zeitungen, manche sogar in Anthologien. Aber keiner von ihnen schaffte jemals den Bestseller, von dem sie immer sprachen. Doch das schien sie nicht weiter zu stören. Sie schrieben weiter fröhlich ihre Geschichten, die sich in aller Welt zutrugen. Das war ihre Art zu Reisen. Und je mehr Theo jetzt darüber nachdachte, umso mehr gefiel ihm diese Art. Sie war günstiger, weniger aufwändig und vor allem - und das spürte er schmerzhaft - war sein Großvater immer mit seinen besten Freunden gemeinsam unterwegs.

Er saß hier allein. Schaute in die Ferne und löschte den Durst mit durchgeschüttelter Cola. Natürlich hatte er gestern abend wieder neue sogenannte Buddies kennengelernt. Wie jeden Abend. Doch sie alle waren auf der Durchreise, hatten Ausflüge gebucht und waren so schnell, sie am Flughafen gelandet waren, auch schon wieder weg. Traveller. Backpacker. Die modernen Reisenden.
Sein Facebook Account ging über vor Freunden, sein emailpostfach jedoch schwieg. Hin und wieder eine Sammelmail einer Reisebekanntschaft mit neuesten updates und Fotos. Unpersönlich und fremd. Das war es. Von den Freunden daheim hörte er nur wenig. Die meisten waren nach der Schule zum Heer und dann direkt in die Lehre oder ins Studium abgetaucht. Er wollte die Welt bereisen, und so jobbte er sich zwei Jahre quer durch Wien, bis das Geld ausreichte für einen Anfang. Dann ging es Los. London und England, ein kurzer Streifzug nach Wales, Edinburgh und die Highlands, Irland, Orkney und die Shetlands. Von da direkt nach Skandinavien. Von Island aus wollte er nach Amerika, dann Asien und letztendlich Australien und Neuseeland. Irgendwo zwischendrin müsste er sich wieder einen Job suchen, aber bisher hatte das Geld gereicht.

Ihm wurde schlecht. Schlecht bei dem Gedanken daran, in zwei Tagen den weiten Flug nach Amerika anzutreten, um dort weiter allein in Bussen, Bahnen und Mietautos die Landschaft zu streifen, in unbequemen Hostelbetten zu schlafen und von zu viel Alkohol zu Kopfschmerzen mit sich zu tragen. Er wollte heim. Und je mehr er darüber nachdachte, je mehr Cola er in sich hineinschüttete, um dieses Gefühl zu ertränken, umso klarer wurde ihm, dass es das einzig Sinnvolle war, was er tun konnte. Er wollte seinen Großvater sehen, wollte ihm von seiner Reise erzählen, von dem, was er gesehen und erlebt hatte und mit ihm die Dinge umschreiben, an die er sich nur dunkel oder gar nicht erinnern konnte. Die Fotos konnten eine wundervolle Vorlage für sie sein, so wie die Fotos aus den Reisekatalogen, die sein Großvater immer als Anregung für seine Geschichten verwendet hatte.
Er sah sie schon vor sich, den alten Espresso-Fritz, den langen Karl, den Pfeife rauchenden Heinz, die Tiroler Zwillinge Emil und Edgar, den stummen Gerhard, den kleinen Erich und mittendrin seinen Großvater Bernhard. Wie sie sich freuen würden, wenn er ihnen neuen Stoff lieferte für ihre skurrilen Geschichten.

Er lachte ein wenig bei dem Gedanken, die alten Herren wiederzusehen. Dann erschrak er. Die Straße entlang schlängelte sich ein weißer Reisebus der Firma Reykjavik Excursions. In zwei Minuten war Abreise. Er sprang auf, sein Kopf stöhnte aber Theo ignorierte ihn. Etwas zu schwungvoll schmiss er sich den Rucksack, der plötzlich viel leichter schien, über die Schultern, und eilte die Stufen hinab, an den Touristen vorbei, die ihn missmutig ankeuchten.
"Entschuldigung." sagte er immer wieder. "Entschuldigung, aber ich muss nach Hause."

Sunday, August 15, 2010

iHRE HÄNDE


Als sie den aus dem Fahrstuhl hinaus auf den Gang zum Untersuchungszimmer traten schrie sie laut und schrill auf. Zerrte panisch an ihren Händen, die mit Lederriemen am Bett festgebunden waren. Je mehr sie versuchte sich loszureißen, desto panischer wurde sie. Desto lauter und schriller ihr Schreien.
Im Untersuchungszimmer waren drei Schwestern bemüht sie auf die Liege zu heben. Ein Arzt wusch sich die Hände mit Desinfektionsmittel. Die Tür wurde geschlossen. Anweisungen flogen durch den Raum. Wenig später wurde es still.

Greller Sonnenschein fiel auf das Bett und blendete sie noch bevor ihre Augen sich öffneten. Es schmerzte. Alles schmerzte. Hektisch hob sie ihren rechten Arm und betrachtete ihre Hand. Der Lederriemen war roten wunden Stellen gewichen. Spuren von Schmerzen und Angst. Erschöpft ließ sie die Hand sinken und schloss die Augen wieder.
Es klopfte an der Tür und noch ehe sie antworten hätte können stand die Stationsschwester bereits im Raum. Neben ihr ein junger Mann, auf dessen Kittel noch klar und deutlich der Name zu lesen war. Pfleger Stéphane. Das accent aigu mit Edding nachgezeichnet, bisher jedoch von niemandem beachtet. „Pfleger Stephan“ nannte ihn die Stationsschwester und die Härte, die dabei in ihrer Stimme mitschwang, unterstrich ihr Auftreten.
„Das ist Frau Finda.“ sagte sie mit ebensolcher Schärfe. „Sie ist - na sagen wir - kein leichter Fall. Nur so viel: Halten Sie Abstand, sonst schanppt sie zu!“ Lautes Lachen erklang hohl und blechern aus ihrem langen Hals. Stéphane lächelte unsicher mit. Frau Finda hielt weiterhin fest die Augen geschlossen.
Lange Minuten, nachdem die Stationsschwester und Stéphane den Raum verlassen hatten, war ihre Wut etwas verflogen und sie öffnete die Augen. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ihr war kalt. Sie stand auf und ging langsam hinüber zu dem kleinen Tisch, nahm die graue Strickjacke vom Stuhl und fühlte die Wolle sanft aber nachdrücklich, bevor sie ihre dünnen Arme hineingleiten ließ.

Auf dem Tisch standen eine neue Flasche Mineralwasser und ein sauberes Glas. Sie griff die Flasche mit beiden Händen und fuhr mit den Fingern das Plastik entlang. Zittrig drehte sie den Verschluss, rutschte einige Male ab, bis es laut zischte, Wasser über ihre Hand spritzte und die Flasche hinunter auf den Tisch tropfte. Dann stellte sie sie ab, nahm das Glas in beide Hände und hielt es so eine Weile bevor sie es ebenfalls auf den Tisch zurückstellte. Klebrige Fingerabdrücke zierten den Rand. Sie goß etwas Wasser in das Glas und hielt ihre linke Hand darüber. Wasserspritzer tanzten zart von unten gegen ihre Haut.
Ihr Blick wanderte aus dem Fenster hinaus in den Park und verlor sich dort im Grün der Bäume.
Als die Zeiger der Uhr über ihrem Bett auf zwölf sprangen, nahm sie ihren Zimmerschlüssel und ging hinunter in den Speisesaal. Er war noch menschenleer. Sie atmete auf.

Der Tisch vierzehn am Fenster war für vier Personen gedeckt, obwohl sich nie jemand zu ihr setzte. Sie mochten sie nicht. Sie war ihnen unheimlich.
Am Fenster nahm sie Platz, nachdem sie eilig mit ihren Händen über die Stuhllehne gefahren war, die Sitzfläche berührt hatte. Sowohl Gabel, Messer und Löffel als auch den leeren Teller fühlte sie ebenso hastig, aber nicht weniger inständig ab. Eine Schwester kam herbei und stellte eine Schale mit Suppe und einen Teller mit dem Hauptgericht auf den Tisch. Sie sagte kein Wort. Frau Finda bedankte sich nicht. Ein stummer Wortwechsel.
Die knochigen Hände der alten Frau legten sich um die warme Suppenschale. Sie schloss die Augen für ein paar Sekunden. Als sie Stimmen durch die Eingangstür zum Speisesaal kommen hörte, griff sie schnell zum Löffel und leerte die Schale. Das Hauptgericht ließ sie unberührt stehen und verließ den Saal durch den Hinterausgang. Zu dieser Zeit waren die Aufzüge viel benutzt, deshalb beschloss sie die Stiegen zu nehmen. Ein paar Mal atmete sie tief durch, dann ergriff sie mit beiden Händen das Metallgeländer und begann sich Stufe für Stufe hinaufzuziehen. Im zweiten Stock trat Pfleger Stéphane aus dem Gang ins Stiegenhaus. Als er Frau Finda sah, kam er sofort herüber, wollte ihren Arm ergreifen und sagte „Ich helfe Ihnen.“
Sie zuckte zusammen, streckte ihre Hände nach ihm aus und berührte ihn dabei unsanft im Gesicht.
„Nein. Ich schaffe das schon.“ Ohne ihn anzusehen zog sie sich weiter langsam die Stufen hinauf.
„Ich schaffe das schon.“
Stéphane sah ihr nach. Erschrocken. Verunsichert.
„Ich schaffe das schon.“ hörte er sie ein letztes Mal sagen, dann verschwand sie im Gang auf der dritten Etage. Die Tür fiel laut ins Schloss.

Einige Tage später begegnete Stéphane Frau Finda im Park hinter dem Haus. Er stand etwas entfernt vom Hauseingang und rauchte, als sie den engen Weg zwischen den Blautannen entlangspazierte. Es hatte kurz zuvor geregnet. Weiche Tropfen lagen auf den Tannennadeln und drückten das grüne Kleid schwer nach unten. Immer wieder blieb sie stehen und berührte die Tannennadeln, sah zu, wie die Tropfen zu Boden fielen. Sie lehnte sich nach vorn und versuchte die feuchten schweren Tannenzapfen zu berühren. Es war in diesem Moment, als er begriff. Die Zartheit ihrer Hände erkannte, die Zartheit ihres Wesens.
Er ging langsam zu ihr hinüber, trat ganz leise an ihre Seite und schob seine Hand sanft über ihre. So sanft, dass sie vor Erstaunen und Unbehagen weder zuckte noch erschrak. Ein paar Sekunden, die ihr endlos erschienen, ließ er seine Hand auf ihrer verweilen. Dann schob er sie über die Tannenzapfen, die sie zuvor nicht erreicht hatte, während er mit der anderen Hand ihre rechte Schulter hielt, so dass sie das Gleichgewicht nicht verlor.
„Ich mag den Geruch von warmem Regen in der Luft, Sie nicht auch?“ sagte er leise. Sie hielt inne. Schaute ihn nicht an, bewegte sich nicht. Dann nickte sie, löste sich aus seinen Berührungen und ging ins Haus zurück. Ihre Augen so feucht wie Tannennadeln nach dem Regen.

Am Abend, als es an ihrer Zimmertür klopfte, dauerte es, bis jemand eintrat.
„Frau Finda? Ihre Medikamente.“ Die Stimme warm und sanft. Ein Lächeln.
Sie schaute Stéphane an und nickte. Der Gesichtsausdruck unverändert. Er stellte ein Glas Wasser auf ihren Nachttisch und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen, jede ihrer Bewegungen ohne sich zu wehren. Er ließ die Pillen aus dem kleinen Becher in ihre Hand gleiten und schloss sie. Dann reichte er ihr das Wasserglas. Sie warf die Pillen in ihren Mund, griff vorsichtig nach dem Glas und hielt es eine Weile in ihrer Hand, fuhr mit dem Zeigefinger den Rand entlang. Stéphane wartete geduldig bis sie die Pillen mit dem Wasser hinuntergespült hatte. Dann fragte er, ob sie noch etwas brauche. Sie verneinte.
„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.“ sagte er und schloss leise die Tür.

Als am nächsten Morgen um sechs Uhr die Zimmertür aufflog, eine Hand unsanft auf den Lichtschalter knallte und grelles Licht den Tag begrüsste, erwachte sie aus einem tiefen Schlaf und erschrak. Die Angst, nur geträumt zu haben, lähmte sie und für Stunden verließ sie das Bett nicht. Die Leere ihres Magens führte sie am Nachmittag auf die Toilette und vermischte sich mit Spülwasser. Sie begann zu zittern. Plötzlich schien ihr das Leben in diesem Haus nicht mehr möglich. Stéphane hatte ihr Verständnis geschenkt, das sie nicht kannte und ohne dem sie sich mit dem Alltag hier arrangiert hatte. Jetzt jedoch war ein Funken Hoffnung lodernd entfacht und sie konnte nicht mehr zurück. Wenn all das nur ein Traum gewesen war, so wollte auch sie nichts weiter tun als träumen. Traurig und erschöpft schlief sie ein.
Gegen Abend klopfte es an der Tür. Wieder dauerte es, bis jemand eintrat.
„Guten Abend Frau Finda.“ Als sie die Stimme Stéphane‘s erkannte fühlte sie Erleichterung gefolgt von einem Schwall an Tränen in ihren faltigen Lidern. Sie lächelte. Stéphane lächelte zurück, erfüllt von dem Gefühl, dass seinen Beruf zu seinem Lebensinhalt werden ließ.
„Ihre Medikamente.“ er hielt ihr den kleinen Becher mit den Pillen und das Glas Wasser hin. Sie wiederholten das Spiel vom Vorabend. Nur legte sie diesmal ihre linke Hand auf seine Hand, die ihre wiederum umschloss. Eine Weile saßen sie so da.
„Danke.“ sagte sie leise und erschrak über ihre kratzende Stimme. Den ganzen Tag hatte sie nicht gesprochen. An allen anderen Tagen redete sie ebenfalls wenig. Sie hatte vergessen wie es war, ein längeres Gespräch zu führen. Auch wenn die letzten Begegnungen mit Stéphane keine wirklichen Gespräche waren, so fühlten sie sich doch dem näher als allen anderen kurzen Wortwechseln der letzten Monate.
Als Stéphane aufstand und das Zimmer verlassen wollte, nahm sie allen Mut zusammen uns rief leise „Stéphane?“
Er drehte sich um und schaute sie fragend an.
„Der Regen!“ sagte sie und zeigte zum Fenster. Den ganzen Tag über hatten dunkle Wolken das Haus verhangen. Schwere Tropfen klopften in rhythmischem Tempo gegen die Fensterscheiben.
Stéphane schaute hinaus, nickte und verstand. Er schob den Nachttisch beiseite und ging am Bett der alten Frau vorbei zum Fenster. Der Griff ließ sich nur schwer drehen, Dichtungsgummis klebten zusammen und quietschten, als er die Rahmen voneinander trennte. Kühler Wind verwehte die alte vertrocknete Luft im Raum. Er ging zurück zu ihrem bett und reichte ihr seinen Arm. Sie ergriff ihn mit beiden Händen und streichelte ihn sanft von unten nach oben. Er wusste, dass es eine Mischung aus ihrer zwanghaften Berührung der Dinge und der Sehnsucht nach Zuneigung war und ließ es geschehen. Dann half er ihr aus dem Bett hinüber zum Fenster. Dort ergriff er wie schon am Tag zuvor ihre Schulter und führte ihre Hand hinaus in die Abenddämmerung. Dicke Regentropfen fielen auf die verwelkte Haut. Sie schloss die Augen und lächelte. Glückseligkeit ließ sie für einen Moment taumeln. Dann führte Stéphane sie zurück zu ihrem Bett und verabschiedete sich für die Nacht.

Die nächsten Tage vergingen voller Hoffnung und Erwarten der Abende. Pfleger Stéphane hatte ihr in kurzer Zeit das gesamte Haus und das Leben darin näher gebracht. Er lief mit ihr abends, wenn die meisten anderen Bewohner schon schliefen, die Gänge auf und ab, besuchte die Untersuchungszimmer und Werkstätten, den Schwimmbereich und die Küche und half ihr, sich ihr Leben der letzten Jahre zurückzuertasten. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie jeden Abend seine Arme berührte und ihm hin und wieder dankbar über sein Haar strich.
Sie sprach nicht viel und so war er es, der ihr alles erklärte und Geschichten erfand. Hin und wieder lachte sie sogar laut.

An einem Abend, nachdem sie wieder lange durch das Haus spaziert waren, begegneten sie zwei anderen Bewohnerinnen. Dass Frau Finda lachte und sich von Pfleger Stéphane am Arm führen ließ erkannten sie sofort als ungewöhnlich. Erstaunte Blicke folgten ihnen durch den Gang. Stéphane glaubte ein siegreiches Lächeln im Blick von Frau Finda zu erkennen.
„Dieser Hut.“ sagte sie. „Dieser lächerliche blaue Hut.“ Daraufhin lachte sie wieder laut. Auch Stéphane lachte. Er wusste sofort, was sie meinte und für ein paar Minuten verloren sich beide in schallendem Gelächter.

Ein paar Wochen später spürte Stéphane, dass Frau Finda wieder ruhiger wurde. In sich verschlossener. Sie lachte weniger. Verschluckte Sätze. Ein Blick in die Kalender und Patientenberichte verriet ihm, warum. Die Operation. Er wusste von ihrer Krankheit, das gehörte zu seinem Job. Aber er hatte nie mit ihr darüber gesprochen und er fragte sich, was er tun könnte, um ihr diesen Schritt zu erleichtern. Eines Abends hatte er eine Idee.
Er klopfte an ihre Zimmertür und sie schaute ängstlich, als diese sich langsam, aber von klapperndem Geräusch begleitet öffnete. Stéphane trat ein mit einem Tablett voller Operationsbesteck. Er nahm einen Stuhl und setzte sich an ihr Bett. Dann gab er ihr ein stählern blinkendes Werkzeug nach dem anderen und erklärte ihr, was damit getan werden würde. Ihre Hände zitterten und er wusste, dass sie Angst hatte. Um die Wortstille im Raum, der nur vom Klappern der Instrumente erfüllt war, zu unterbrechen, begann er, ihr den Operationssaal zu beschreiben. Die Farben der Wände, die Geräte, Waschbecken, den Untersuchungstisch bis hin zur Aufstellung der Pfleger, Schwestern und Ärzte darum. Sie hörte ihm geduldig zu, schloss hin und wieder die Augen und atmete tief durch. Erst als er begann, ihr von den Monitoren, den einzelnen Linien und Zahlen darauf zu erzählen und am Ende sogar den Defibrillator erwähnte, schaute sie ihn mit starrem Blick an und schüttelte den Kopf. Er hielt inne und las in ihren Augen. Dann nickte er und verstand.
Er sammelte alle Instrumente wieder auf das Tablett, wünschte ihr eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
In den nächsten Tagen vor der Operation gingen sie immer seltener im Haus spazieren, auch Stéphane war nervös. Er hatte sich an diese Frau gewöhnt. Sie gehörte so sehr zu seinem Job wie die Müdigkeit der Nachtschicht.

Am Tag ihrer Operation hatte er frei und betrat dennoch das Haus. Vor der Tür zum Operationsbereich, der nur für Personal zu betreten war, wartete er auf sie. Zwei Schwestern fuhren sie auf einem breiten Bett den Gang entlang. Sie hatte bereits den Körper voll Beruhigungsmittel gespritzt und schaute leer an die an ihr vorüberziehenden Neonlichter.
„Frau Finda!“ rief er leise. „Schauen Sie!“
Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. Ausdruckslos. Er nahm ihre Hand und legte etwas großes Weiches hinein. Sie verdrehte den Kopf soweit, dass sie erkennen konnte, was es war. Verschwommen erkannte sie etwas Blaues und ein paar Sekunden später hatten ihre Gedanken den Weg durch den Nebel aus Beruhigungsmitteln gefunden. Sie lächelte. Zu mehr war ihr Körper nicht fähig aber er wusste, dass sie innerlich mit einem lauten Lachen in den Operationssaal fuhr.

polaroid by Nadine Hilmar (my alltime favourite fade to black!)

Wednesday, August 11, 2010

HAUSNUMMER 28 - ein auszug


Als sie in das Haus zurückkehrten, roch es nach verbranntem Metall. Schweißbrenner. Ein Geruch, der nicht zu der nervraubenden Stille passte. Der nach Lärm und Funkensprühen schrie. Nach dem Gefühl, dass sie alle in sich trugen. Doch nach außen waren alle sehr ruhig, wußten nicht, was sie erwarten sollten und waren froh über den fremden Geruch. Das Zeichen, dass etwas anders war. Etwas geschehen war.
Herr Schramm war der einzige, der am Briefkasten stehenblieb und nach der Post schaute. Herr Koller und der, den sie alle nur Eldo nannten, taten es ihm nach. Stumm zogen sie Briefe und Zeitschriften aus den blechernen Kästen und schauten hastig alles durch auf der Suche nach einer Nachricht, einem Brief. Einer Erklärung.
“Irgendwas Wichtiges dabei?” rief Rainer Mattes.
Herr Schramm, Herr Koller und Eldo schüttelten nacheinander die Köpfe.
“Nichts.” sagte Herr Schramm.
“Nichts.” bestätigte Eldo.
“Aber vielleicht steht was in der Zeitung. Da muss doch was stehen. Irgendwer muss doch was wissen.” ergänzte Herr Schramm eilig in die Runde betretener Gesichter. Einige nickten stumm.
“Oder wisst Ihr etwa was? Haben die wirklich keinem was gesagt?”
Kopfschütteln. Langes, stummes Kopfschütteln.

Frau Mattes war in der Zwischenzeit eilig die Treppe hinauf gelaufen und versuchte nun mit zitternden Händen den Schlüssel in das Schloss zu schieben. Als die Tür aufsprang lief sie in die Küche und blieb erleichtert vor dem ausgeschalteten Herd stehen. Es wäre ja eh alles bereits in die Luft geflogen, dachte sie sich. Drei Tage kann ein Herd nicht angeschalten sein, ohne großen Schaden anzurichten. Sie stützte sich auf die Spüle und atmete tief. Alle Anspannung schien aus ihrem Gesicht zu fallen. Sie wurde blass und Schweiß trat ihr auf die Stirn. Noch immer zitternd, jetzt etwas mehr als vorher, öffnete sie die Schranktür und nahm ein großes Bierglas heraus. Eines mit Henkel, damit es ihr nicht aus der schwitzigen Hand glitt. Sie hielt es unter den tropfenden Wasserhahn und ließ es gierig randvoll laufen. Gerade als sie es ansetzen und davon trinken wollte kam ihr Mann Rainer in die Küche gelaufen und rief “Nicht!”. Sie hielt inne. Schaute ihn erschrocken an.
“Das Wasser steht doch seit Tagen in der Leitung. Da ist doch voller Bakterien. Da holst Du Dir noch was weg. Komm her, kipp das weg.” Er nahm ihr das Glas aus der Hand und kippte das Wasser in die Spüle, dann drehte er den Hahn auf und ließ das frische Wasser eine zeitlang in die leere Spüle laufen. Frau Mattes schaute dem Wasser hinterher, wie es einen Kreis zog in der Spüle und dann durch den Abfluss wegrann. Der Abfluss, dachte sie, der geht wieder. Den haben wir neulich noch frei gemacht. Neulich. Vor dem, was da war.
“So, Jetzt sollt es gehen.” sagte Herr Mattes, füllte das Glas und reichte es seiner Frau. Sie schaute noch immer in die Spüle.
“Marianne!” rief er. “Dein Wasser!”
Sie zuckte zusammen und schaute ihn an, dann das Glas, nahm es und trank in großen Schlucken daraus. “Der Herd war doch aus.” sagte sie plötzlich.
„Was?“ fragte er mit gerunzelter Stirn.
“Du hattest recht. Den muss ich noch ausgemacht haben. Komisch, dass ich das immer vergesse.” Sie schaute ihn nicht an dabei.
“Hab ich Dir doch gesagt. Den machst Du doch immer aus. Das hast Du noch nie vergessen und immer wieder fragst Du Dich.” Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
“Aber das ging doch alles so schnell.” Frau Mattes schaute noch immer in die leere Spüle und schüttelte den Kopf. “Vielleicht ham die den Herd auch ausgemacht.”
Herr Mattes nahm ein Schluck Bier und sagte “Wer die. Wer sagt denn, dass hier wer in der Wohnung war?” Erschrocken schaute er sich um. Suchte nach Anzeichen dafür, dass Fremde im Raum waren. Dass etwas anders war. Er roch in die Luft.
“Na die halt. Die da plötzlich gekommen sind. Neulich.” Jetz schaute sich auch Frau Mattes um, stellte ihr Glas auf den Küchentisch und schritt weiter durch die Wohnung.

Eldo rannte aufgeregt von Zimmer zu Zimmer. Er öffnete alle Fenster und zog im Schlafzimmer die Wäsche von den Bettdecken. Gemeinsam mit den Handtüchern im Bad stopfte er alles in die Waschmaschine und drehte sie auf fünfundneunzig Grad. Eilig wusch er sich die Hände und ging zurück in die Küche. Im Kühlschrank nahm er alle Lebensmittel, deren Verpackung bereits geöffnet war, und warf sie in einen großen Plastiksack.
“Was tust Du da?” fragte Yohann, der bisher nur stumm auf dem Sofa gesessen und vor sich hingestarrt hatte.
“Ich will das nicht länger behalten. Ich weiß nicht was hier passiert ist, ob hier jemand war. Außerdem lag das jetzt tagelang hier rum. Das muss weg.”
Yohann nickte nur und ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich wieder auf das Sofa und starrte weiter vor sich hin. Er kratzte sich am Kopf, und an den Schultern. Bis hinunter zu den Oberarmen. Das tat er schon die ganze Zeit. Seitdem sie zurückgekommen waren.
Er zog sein Tabakpäckchen aus der Hosentasche und zog ein Blatt Papier aus der krümeligen Schachtel. Die Zigarette, die in schneller Fingerfertigkeit entstand, war sehr dünn und sah zwischen seinen langen Fingern aus wie ein kleiner Zahnstocher. Er steckte sie sich in den Mund und ließ aus dem roten Feuerzeug eine Flamme in die Luft schnellen. Ein tiefer Atemzug. Kurzes Innehalten und langes, genüssliches Ausatmen. Doch trotz dem leichten Knistern von Tabakkrümeln, dem sanften Aufsteigen des Rauches, der tiefen Inhalierung des Nikotin konnte er sich nicht entspannen. Eldo rannte wie ein aufgescheuchtes Waldreh durch die Wohnung und er wusste nicht, ob er sich um ihn, oder um die Wohnung Sorgen machen sollte. Er fühlte, dass er frische Luft brauchte, doch er hatte Angst, Eldo in der Wohnung, oder die Wohnung mit Eldo alleinzulassen. Er stellte sich ans geöffnete Fenster und schaute in den Hof. In fast allen Wohnungen waren die Fenster geöffnet. Aber man hörte nichts. Überall war es still. Kein Fernseher lief. Keine laute Musik. Nirgends klingelte ein Telefon. Nur irgendwo, unten, da schien jemand. Da hörte man ein Husten. Immer wieder. Räuspern, dann Husten. Yohann nahm den Kopf zurück. Er wollte niemanden hören, niemanden sehen. Vor allem wollte er nicht gesehen werden.
„Ich bring das nur schnell weg!“. Eldo stand mit drei gefüllten Müllbeuteln in der Tür zum Wohnzimmer und tat, als würde er jeden Dienstag die Wohnung halb leerräumen. Yohann blickte nicht auf.
Die Wohnungstür fiel ins Schloss und Eldo hastete die Stufen hinunter. Seine Schritte waren immer eilig, doch heute schienen sie ihn überholen zu wollen und er stoppte, als er merkte, dass er seine Füße nicht mehr selbst kontrollieren konnte. Dann lief er weiter, öffnete die Tür zum Müllraum und warf alle drei Müllsäcke schwungvoll in den Restmüllcontainer. Im Hof blieb er einen Moment stehen, schaute nach oben und bemerkte die Stille. Etwas war anders. Er fühlte sich unheimlich und hoffte, dass die Normalität bald wieder Einzug halten würde.
Im Eingangsbereich bei den Briefkästen erkannte er Herrn Schramm. Er trug noch immer Mantel und Schal und betrachtete die Decke. Er hatte einen kleinen Schraubendreher dabei und stach ihn hier und da in die Wände, in die Decke. Kleine Putzstückchen lagen am Boden. Farbe blätterte von den Wänden.
„Herr Schramm, was machen Sie denn da?“ fragte Elde erstaunt, gleichzeitig besorgt.
„Untersuchen. Das muss alles untersucht werden.“ sagte Herr Schramm leise vor sich hin. Er blickte Eldo dabei nicht an sondern weiter angespannt an die Decke. Dann dem bröckelnden Putz hinterher zu Boden. Er räusperte sich, hustete.
„Aber Sie wissen doch gar nicht wonach Sie suchen sollen. Das bringt doch nichts.“ versuchte Eldo ihn von seinen Taten abzubringen.
„Untersuchen. Das muss alles untersucht werden.“ wiederholte Herr Schramm. Schaute immernoch nicht auf den zierlichen kleinen Mann hinter ihm.
Eldo schüttelte den Kopf, beobachtete Herrn Schramm noch eine Weile, hörte ihn noch einige Male das Wort „Untersuchen“ sagen und ging dann nach zurück in die Wohnung. Yohann hatte sich im Bad eingeschlossen. Das tat er immer, wenn er sich in die Badewanne legte. Eldo ging ins Wohnzimmer und schaute sich um. Es herrschte Ordnung und Sauberkeit in einem Maße, das er den Umständen entsprechend akzeptieren konnte. Er fühlte sich noch immer nicht wohl, nicht heimisch. Aber es gab im Moment nichts weiter, das er tun konnte und glitt vorsichtig aufs Sofa. Zum ersten Mal spürte auch er eine Art Erschöpfung, eine Welle an Müdigkeit und legte sich für einen Moment aufs Sofa.
Zwei Stunden später erwachte er. Draußen war es bereits dunkel. Ein kühler Wind wehte durch die Wohnung.

polaroid by bastiank

Tuesday, August 10, 2010

DAS FENSTER


Es war der elfte Tag nach ihrem Tod. Ihr Körper war bereits in einen Holzsarg gekleidet tief in der Erde versunken. Blumen würden das Grab hüten. Verwelkt und braun allmählich, die Schleifen an den Kränzen in Windrichtung zerrissen. Grab Nummer neunzehn, Reihe acht gleich hinter der alten Eiche links. Nicht weit von den Gießkannen. Das war praktisch im Sommer, wenn es wenig regnete. Regen.
Wann würde es wieder regnen? Er sah vom Bett aus durch das Fenster der grauen Nebelwand entgegen. Dunkle Wolken, die mächtig und träge anrückten, jedoch den Regen unterwegs verloren hatten. Seit Tagen Nebel und grau. Etwas Wind, der durch die undichten Fenster pfiff. Sonst nichts.
Er schlug die Decke zurück, ließ ein Bein aus dem Bett gleiten, zögerte noch einen Moment schob dann das Zweite nach und stand auf. Einen Augenblick blieb er stehen, hielt sich den Kopf und ging dann langsam durch das Zimmer. Aus dem Schubfach im Schreibtisch zog er das Notizbuch hervor, schlug es am roten Faden auf und nahm vorsichtig das Polaroid heraus. Er betrachtete es eine Weile, hielt es dann vor sich Richtung Fenster und schaute so eine Weile auf das Bild und an dem Bild vorbei aus dem Fenster. Bild. Fenster. Bild. Er schüttelte den Kopf und legte das Foto zurück in das Notizbuch, schlug es zu und legte es zurück in das Schubfach im Schreibtisch. Ihm war kalt.

Im Flur zog er das Handtuch von der Heizung und ging ins Bad. Über dem Spiegel hing ein Foto von ihm. Er nahm es, hielt es neben sich und betrachtete so sein Gesicht und das auf dem Spiegelbild des Polaroids. Er musste sich rasieren, sonst würde die Ähnlichkeit verschwinden.
Das Handtuch ließ er auf den Boden gleiten und stieg in die Dusche. Während das Wasser auf Erwärmung wartete, putzte er sich die Zähne. Rasch, ohne Gründlichkeit, aber umso heftiger. Ein wenig Blut vermischte sich mit der Zahnpasta. Er spuckte es an sich vorbei in den Ausfluß und steckte die Zahnbürste hinter die alten Shampooflaschen. Das Wasser wurde warm genug, um den Kopf darunter halten zu können ohne dabei Kopfschmerzen zu bekommen. Mit wenigen Handgriffen seifte er sich ein, griff dann zum Rasierer und schob ein paar schwarze Stoppeln von der Haut in seinem Gesicht. Ein letztes Mal wandte er seinen Kopf in den schwachen Wasserstrahl, dann drehte er an dem verkalkten, quietschenden Rad und schob den Duschvorhang beiseite. Das vom Vortag noch etwas feuchte Handtuch überhäufte ihn mit Kälte und Einsamkeit.
Ohne noch einen Blick in den Spiegel zu werfen fuhr er mit den Händen ein paar Mal durchs Haar und zog sich an. Im Flur hing er das Handtuch zurück über die Heizung. Der Heizkörper war kalt, es war Juni. Doch der Nebel und die feuchtkalte Luft ließen die Wäsche nur langsam trocknen. Aber wo sollte er das Handtuch sonst hinhängen. Das war nunmal der Platz dafür. Schon immer gewesen.

In der Küche ließ er den Wasserkocher bis zum Maximumstrich vollaufen und schaltete ihn an. Als er die Teeschachtel vom Regal nahm, fiel der letzte Teebeutel heraus. Er hatte es kommen sehen, hatte die letzte Packung vor einer Woche geöffnet und festgestellt, dass ihm der Tee ausging. Aus der Teekanne nahm er den alten Teebeutel und hängte ihn an die Schnur, die er vom Regal zum Küchenschrank gespannt hatte. Dort hingen bereits achtzehn weitere Teebeutel. Einige davon bereits getrocknet, die letzten neben dem Heutigen noch etwas feucht. Alle trugen sie braune Flecken und sahen ihn mit tiefer Traurigkeit an.
Er warf den letzten noch unbenutzten Teebeutel in die Kanne und wartete darauf, dass das Wasser kochte, lauschte dabei dem beruhigenden Gurgeln und Zischen, bevor der Hebel des Kochers nach oben schnappte. Leise lief das heiße Wasser in die Teekanne und ließ sich vom Teebeutel mit Geschmack betupfen.
In der Abwasch stand eine blaue Schale, die er kurz mit kalten Wasser ausspülte und auf den Tisch stellte. Das dumpfe Geräusch von Keramik auf Holz. Aus der Müslipackung schüttete er etwas in die Schale und setzte sich. Die Milch war ihm vorgestern ausgegangen. Seitdem aß er das Müsli trocken und trank dazu den heißen Tee. Ihm wurde allmählich wärmer.
Draußen hatte sich die Nebelwand näher an das Haus herangeschoben.
Als er die Schale geleert hatte stellte er sie zurück in die Abwasch. Dann nahm er die Teekanne, seine Tasse und ging über knarzende Holzdielen hinüber ins Wohnzimmer. Er schaute sich kurz um. Nichts hatte sich hier verändert.
Auf dem Sofa lag noch immer die Decke zurückgeschlagen über der Lehne. So wie die Männer, die vor elf Tagen ihren Leichnam abgeholt hatten, sie hinterlassen hatten. Drei Stunden nachdem sie heimgekehrt waren und sie erschöpft zusammenbrach. Nie wieder erwachte. Es war ihr letzter Spaziergang und sie hatten es gewusst. Ein letztes Mal wollte sie hinaus und den Regen spüren.
Sie hatten wenig gesprochen, überhaupt in den letzten Tagen und Wochen vor ihrem Tod hatten sich Worte und Sätze in seinen Kopf eingefressen, waren steckengeblieben. Fanden den Ausgang nicht. Sie hatte verstanden und war dankbar, denn ihr fehlte allmählich die Kraft um zuzuhören und selbst Sätze zu formen. Auf dem Spaziergang hatte sie sich sehr angestrengt, versucht ihm tief in die Augen zu schauen und langsam die Lippen bewegt. Sie hatte ihn gebeten er möge nicht um sie trauern, auch wenn sie wusste, dass er es tun würde. Umso mehr hatte sie ihn angefleht so zu bleiben, wie er war. Wundervoll, sagte sie immer wieder. Dass sie ihn liebte, dass hat sie nicht geschafft zu sagen, aber dass sie sich wünschte, er würde nichts an sich ändern. Niemals. Und wenn sie eines Tages irgendwo beide... Den Satz hatte sie auch verschluckt, er kam ihr albern vor. Sie glaubten nicht an etwas davor oder danach und die leise Hoffnung, die in ihr schlummerte, trug sie allein mit sich in den Tod.
Er hatte nur genickt und die Augen auf den kalten Asphalt gerichtet. Im selben Augenblick hatte er beschlossen, so zu leben, als würde diese Tag nie zu Ende gehen. Zu Hause hatte er mit seiner alten Sofortbildkamera das Fenster und die Aussicht fotografiert. Im gleichen Moment hatte er sie im Wohnzimmer zu Boden fallen gehört.

Er stellte die Teekanne auf den Tisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Einen Moment schloss er die Augen, legte den Kopf zurück und atmete tief ein. Er schluckte. Nein, er durfte nicht trauern. Sie hatte ihn darum gebeten und so schlug er eines der Bücher auf, die neben ihm auf dem Boden lagen und verschwand in eine andere Welt. Die meisten der Bücher im Regal gehörten ihr. Er hatte nie daran gedacht sie zu lesen, bis zu ihrem Tod, als er beschloss, das Haus erst wieder zu verlassen, wenn es wieder regnete. Wenn der Himmel wieder die Färbung annahm, wie er sie eingefangen hatte auf dem Polaroid in seinem Notizbuch im Schreibtisch. In dem Moment, als das Leben aus ihrem Körper schlich.
Nichts wollte er ändern. Weder sich, noch die Welt.
Die Bücher halfen ihm. Er konnte die Zeit vergessen und die Tage vergingen. Leben drehte sich auf Welten, ohne dass sich in seinem etwas änderte.
Hin und wieder legte er eine alte Schallplatte auf, dann, wenn eine Notiz von ihr dazu im Buch stand. Er hatte nicht gewusst, dass sie manche Lieder Situationen in ihren Büchern zugeordnet hatte. Doch als er den Verbindungen folgte, ergaben Text und Musik oft einen ganz neuen Sinn. Oft las er Seiten mehrmals, bevor er die Musik dazu auflegte. Dann war er überrascht und erstaunt, was sie in den Zeilen las, die er soeben scheinbar trocken und spröde verschluckt hatte. Erst jetzt lebten sie auf und bekamen Gefühl.
Nach einigen Tagen wagte er es, selbst Musik zu wählen, die das Lesen begleitete. Stunden konnte er so verbringen ihre Welt, seine Welt und die Welt der Bücher miteinander zu verstricken. Dann vergaß er zu Essen oder zu Trinken und oft auch, das Licht anzuschalten. Erst als die Buchstaben die Dunkelheit umarmten, bemerkte er, dass wieder ein Tag vergangen war.

Fast einen Monat nach ihrem Tod erwachte er und erschrak. Es war 4 Uhr morgens und der Himmel war leicht gerötet. Eine Wolke zog hastig über den Dächern Richtung Osten und der Geruch von anreisendem Regen lag in der Luft. Es schien, als wäre dies der erste Tag, an dem er das Haus verlassen könnte. Ein Blick auf das Polaroid in seinem Notizbuch bestätigte seinen Verdacht und als es wenig später anfing zu regnen, zog er seine braunen Lederschuhe an und verließ die Wohnung. Ohne Ziel ging er auf die Straße und atmete tief ein. Ihm war schwindelig.
Stundenlang lief er umher bis er vor einem Geschäft stehenblieb und erschrak. Sein Spiegelbild im Schaufenster betrachtend stand er so eine Weile und suchte sich selbst darin. Die Person, die er anstarrte war nicht nur dünn, sondern mager, das Gesicht eingefallen und die Hände lang und knochig. Panik überfiel ihn. Das war nicht die Person, die vor einem Monate versprochen hatte, nichts an sich zu ändern. Das war eine fremde Gestalt aus Haut und Knochen. Ein Geist. Er sank vorsichtig zu Boden, streckte die Beine von sich und vergrub den Kopf in seinen Händen. Und je mehr er nachdachte und realisierte, was mit ihm geschehen war, umso mehr begriff er, dass es nicht nur die Gestalt war, die so rasche Veränderungen erlitten hatte.

polaroid by dfuster74

Sunday, August 8, 2010

SiEBEN STATiONEN


Es schien, als hätte sich die Welt in sich selbst verdreht. Verzweifelt hielt er inne, zum, wie es schien, hundertsten Male. Erneut strengte er sich an seinen Ohren zu vertrauen. Auf der Suche nach bekannten Geräuschen, messbaren Empfindungen. Nichts.
Erneut sank er zu Boden und berührte den Moment der endgültigen Verzweiflung. WO WAR ER ???

Es war Schwester Anna, die ihn zum ersten Mal hierhergeführt hatte. Er hatte rebelliert und sich geweigert, so wie er gegen alles rebelliert hatte. Damals. Nach dem Unfall. Doch sie hatte darauf bestanden und ihn erpresst. Sie hatte mit einer Umlegung in ein anderes Zimmer gedroht. Hinüber zu Franz, dem Selbstmörder, der jetzt querschnittsgelähmt in seinem Bett lag und unaufhörlich röchelte. Als Franz dachte, sein Leben könnte nicht mehr schlimmer kommen und es beenden wollte, kam es noch schlimmer. Die Geschwindigkeit nicht hoch genug. Um wenige Zentimeter die Mauer verfehlt. Jetzt war er nicht nur am Ende, sondern auch noch unfähig, dem Ende ein Ende zu setzen.
Niemand konnte mit ihm ein Zimmer teilen. Schwester Anna wusste das und nutzte es schon seit längerem als Druckmittel bei den Patienten. Es war nicht fair, aber mit Fairness erreichte sie selten Einsicht und im Nachhinein half es ihnen. Auch wenn sie es erst später merkten. Sehr viel später. So wie Paul.

Paul war ihr also gefolgt. In den Park. Sobald sie das Gebäude verlassen hatten, war er auf sie angewiesen. Nur wenige Wochen ohne Augenlicht ließen ihn noch sehr fragil durch die laute dunkle Welt stolpern. Sein Stock schien ihm ein ständiger Dorn, mit dem er hier und da anstieß ohne dabei einen Weg zu finden. Er war verzweifelt, frustriert und müde. Müde von der Dunkelheit. Von dem unaufhörlichen Lärm. Von seinem eigenen Mitleid. Er verlor sich jeden Morgen erneut in der Unfähigkeit, den Tag als solchen zu begrüssen. In der Frage nach dem Warum und und dem unerträglichen Was-wäre-Wenn-Spiel.
Und so folgte er Schwester Anna, schimpfte unaufhörlich und erklärte ihr, was für ein unmenschliches Wesen sie sei.

Er stolperte beim Einstieg in die Straßenbahn und hörte nicht auf Annas Anweisung, zukünftig den Ansagen zu lauschen, wenn er allein war. Um sich nicht zu verfahren. Er musste lernen, ohne lesbare Fahrpläne auszukommen. Er würde nie mehr mit der Straßenbahn fahren, hatte er bockig gesagt und heimlich die Stationen gezählt.
Als sie ausstiegen stieß er sich den Kopf und begann von neuem zu schimpfen. Er spürte nicht die Sonne, die ihm auf den Rücken fiel. Er hielt einfach nur Annas Hand und folgte ihren kurzen Schritten.
Wenig später sanken seine Füsse vom Kies in ein weiches Rasenbett. Er fragte, wo sie seien, doch erhielt keine Antwort. Ob sie nun nicht mehr mit ihm rede, fragte er. Ob sie ihn nun aussetzen wollte. Das wäre ihm nur recht, dann bräuchte er nicht mehr ihren dummen Anweisungen zu folgen. Dann könnte er irgendwo sitzen und elendig zu Grunde gehen. Das hatte er ja scheinbar verdient. Warum sonst stolperte er plötzlich durch dieses Dunkel tagein tagaus?

Sie ließ seine Hand los und er blieb stehen. Er schimpfte weiter, denn sie sagte nichts. Laut begann er sich von Neuem in seinem Selbstmitleid zu verfangen. Stieß wütend mit dem Stock in den Boden, der dort steckenblieb und fast zerbrach. Noch wütender darüber beschwerte er sich, was das für ein Leben sein würde im Dunkeln angewiesen auf einen Stock, der im ersten Rasen steckenblieb.
Erst als er sein tägliches Programm an Beschwerden heruntergewettert hatte, rief er nach Anna. Fast panisch schrie er laut, als sie nicht gleich antwortete.
„Ich bin hier unten“ antwortete sie leise.
„Was tust Du da?“ fragte er, während er sich erschöpft neben sie fallen ließ. Sie antwortete nicht und so schloss er die Augen und beruhigte seinen Atem. Er hatte sich viel zu sehr aufgeregt. Er spürte einen harten Gegenstand im Rücken und erschrak bis er bemerkte, dass es ein Baumstamm war. Vorsichtig lehnte er sich dagegen.

Eine Weile saßen sie so da. Beide sahen sie Richtung Himmel, doch keiner schaute wirklich hinauf. Anna nicht, weil sie die Augen geschlossen hielt. Paul nicht, weil er es nicht konnte.
„Das ist wunderschön“ flüsterte er plötzlich, als hätte er einen hohen Berg erklommen und auf dem Gipfel die Aussicht ins Tal erspäht.
Anna lächelte.
„Es ist so ruhig.“
Sie nickte zustimmend, auch wenn er das nicht sehen konnte.
„Danke.“
Die nächste Stunde sagte niemand ein Wort. Bis die Sonne verschwand und der Wind kühl die Haut streifte.
„Sollen wir gehen?“ fragte Anna.
„Sieben Stationen bis zum Stadttor“ sagte Paul und lächelte. Anna zog den langen weißen Stock aus der Erde und legte ihn vorsichtig in Pauls Hand. Zum ersten Mal riss er ihn nicht wütend an sich wie ein bockiges Kind, dem man sein Spielzeug gab.
Schweigend gingen sie zurück.

Danach war Paul fast täglich hier hinausgefahren. Es war seine Oase mitten im Lärm der Stadt. Wie ein Tagebuch, dem er sich öffnen konnte, vertraute er dem Rauschen der Blätter der alten Eiche seine Gedanken an. Fuhr mit den Fingern die Rinde des alten Stammes entlang und tankte Ruhe. Er hatte sich an den Stock gewöhnt und die Dunkelheit, an das Herunterschmeißen von Gegenständen. Aber an den Lärm konnte und wollte er sich nicht gewöhnen. Es schmerzte in seinen Ohren und verwirrte ihn. Nahm ihm jegliche Orientierung in der Welt.

Doch heute war es so ruhig hier draußen wie immer. Dennoch war alles anders.

Es war ein ganz normaler Dienstag. Novembergrau lag ihm die Kühle Stadtluft in der Nase. Er hatte pünktlich um eins die Wohnung verlassen und hatte die Friedrichstraße an der Kreuzung Sägemühlengasse überquert. Die Bauarbeiter zwei Häuser weiter begaben sich zurück auf die Baustelle. Er konnte sie noch riechen. Zigaretten, Kaffe und Bratwurst. Er hoffte sie würden bald fertig sein mit den Arbeiten. Er mochte ihren Geruch nicht. Und den Lärm.
Mit der Ubahn war er drei Stationen bis zum Stadttor gefahren und dann mit der Straßenbahn bis zum Volksgarten. Er war ausgestiegen und eine Weile geradeaus gegangen. Dann bog er nach rechts und lief weiter, bis er mit dem Stock gegen eine Rasenkante stieß. Etwas früher als sonst aber er war auch schneller gegangen. Wegen der Kälte. Der Rasen war kalt und knisterte unter seinen Füßen. Der erste Frost. Dreiundzwanzig Schritte geradeaus und dann nur sieben nach links. Normalerweise hörte er den Baum bereits vorher im Wind singen. Doch heute war es unglaublich still. Er lief, seine Schritte zählend, umher. Erst im Viereck, dann wild im Kreis bis er ganz aufgab die Schritte zu zählen. Immer weiter lief er. Immer schneller. Nichts. Kein Baum. Er spürte, wie er mitten auf einer großen Wiese stand und die Welt ihm dabei zuschaute. Ihn auslachte. Tränen schossen ihm in die Augen. Er versuchte den Geräuschen, die von der Straße herdrangen, zu lauschen. Doch sie waren zu weit weg.

Verzweifelt gab er auf. Er beschloss, den Rasen entlangzugehen, bis er an die Kante stieß und dann einen Weg zurück zur Haltestelle zu finden. Erstaunlicherweise gelang ihm das recht schnell. Er verstand nur noch immer nicht, warum er den Baum nicht finden konnte und sich so einsam auf dem Rasen verlor.
Er ging geradeaus und dann links. Hörte den Verkehr schon sehr bald und folgte den Geräuschen der kommen und fahrenden Straßenbahnen. Zitternd und frierend stand er an der Haltestelle und spürte die Blicke der anderen Personen sich in seine Schulter bohrend. Er verstand die Welt nicht und fühlte den Boden unter seinen Füßen sich schnell drehen wie ein Karussell als er daran dachte, seine Kraft, seine Ruhe, seine Oase verloren zu haben. Es war, als würde er sein Augenlicht ein zweites Mal verlieren. Ihm war schlecht.

Eine Straßenbahn kam und er stieg vorsichtig ein, klammerte sich an einer der Haltestangen fest und betete, nicht zusammenzubrechen. Ruckartig fuhr die Bahn los und bog kurze Zeit später um eine Ecke. Pauls Herz sank tiefer. Das tat sie sonst nie. War er gänzlich auf einem anderen Planeten gelandet ?
„Nächster Halt: Volksgarten, Tor fünf“ meldete eine laute Frauenstimme.
Paul schaute auf ohne zu wissen wohin. Er fragte hastig in die Bahn hinein, ob das wirklich Tor sechs war, an dem sie soeben losgefahren waren. Ein paar Fahrgäste nickten, besannen sich dann, dass er das nicht sehen konnte und stimmten ihm laut und deutlich zu.
Paul begann zu lachen. Laut lachte er, bis ihm die Tränen erneut die Wangen hinunterrannen. Die anderen Fahrgäste schauten ihn fragend an, schüttelten die Köpfe. Eine ältere Dame setzte sich ein paar Sitze weiter entfernt hin und brummte etwas in ihren dicken Schal.
„Verzählt!“ brachte er nur schwer atmend zwischen neuen Lachanfällen hervor. „Ich habe mich einfach verzählt!“

polaroid von coleypj

DAS GRÜNE SOFA


Lange habe ich nichts mehr geschrieben. Es fehlte die Zeit, die Ruhe. Die Gedanken waren verreist. Doch jetzt im Winter, wo alles lethargisch weiß befallen ist, eine saubere Ruhe die Stadt befallen hat, da sollte man Zeit finden, das Telefon abschalten und kreativ werden.
Seit zwei Stunden sitze ich also vor dem Bildschirm und starre ein weißes Blatt an, welches mir das Schreibprogramm automatisch vor die Nase hält. Es schreit nach Worten und Sätzen. Aber bitte mit Stil.

Ich lasse Gedanken treiben, zumindest versuche ich das. Doch sie kommen nicht weit. Prallen an den gefrorenen Fensterscheiben ab und fallen zu Boden. Der ist staubig und gehört gesaugt, aber dazu ist jetzt keine Zeit. Ich muss kreativ sein. Wie will ich sonst heute abend entspannt zu Bett gehen, wenn ich wieder nichts für meine innere Genugtuung getan habe? Also überlege ich weiter.

Ich probiere alle Tricks. Betrachte Postkarten, alte Bilder und lasse meinem Geist freien Lauf. Das funktioniert immer. Ein Foto, ein paar Gedankenwanderungen und schon ist eine Geschichte gesponnen. Etwas an den Sätzen gefeilt, hier und da mit Worten gespielt. Fertig.
Doch heute will es mir nicht gelingen. So wie gestern nicht, und die Wochen davor nicht. Bedrückt stelle ich fest, dass es nicht nur die Zeit war, die mir fehlte.
Ein Brett hat sich zwischen meine Gehirnstränge und die Finger geschoben. Es kommt nichts an. Die Tastatur bleibt unberührt. Das Blatt weiß. Nicht ein Satz. Nicht einmal einer, den man löschen könnte. Das wäre schließlich ein Anfang.

Vom langen Sitzen und Starren tut mir der Rücken weh. Meine Füße schlafen ein, weil ich zu lange im Schneidersitz auf dem Hocker sitze. Ein bißchen Bewegung wäre gut. Yoga. Natürlich. Das wird helfen. Wird die Muskeln lockern, den Rücken entspannen und den Kopf freimachen. Danach werden die Gedanken von allein wieder ihren Weg finden. Ich rolle die Matte aus, lege esoterisch dudelnde Meditationsmusik auf, entzünde Räucherstäbchen und beginne zu atmen. Langsam und tief. Zwanzig Minuten verbringe ich auf der Matte, verbiege mich in alle Richtungen und versuche die Gedanken nicht an die vorherige Gedankenlosigkeit zu verlieren.

Die Abschlussentspannung lasse ich ausfallen. Ich bin entspannt genug, koche mir eine Kanne Tee um die durch Anstrengungen auftetende Dehydration zu verhindern und fühle mich locker wie eine Marionettenpuppe. Tänzelnd begebe ich mich wieder in meine Denkerposition am Schreibtisch. Eine heiße Tasse Tee in der Hand, wild entschlossen, eine spannende Geschichte zu Papier zu bringen, schaue ich noch schnell meine emails durch. Nichts Aufregendes. Ein kurzer Blick in die Liste an Schreibwettbewerben in der Hoffnung auf inspirierende Vorschläge. Nichts. Ein Krimi, eine Weihnachtsgeschichte. Beides nicht mein Genre. Noch nicht, natürlich. Vielleicht komme ich irgendwann dazu. Aber heute nicht. Heute ist mir nach... Ja, wonach ist mir eigentlich? Ich stelle fest, dass ich nicht einmal einen Anhaltspunt habe. Keine Grundidee. Ein Gedanke, eine Richtung. Eine Kurzgeschichte, das ist klar. Oder zumindest eine kurze Geschichte. Kann auch der Anfang von etwas Längerem sein, aber eben ein Anfang. Das ist alles.

Nichts. Ich überlege in alten Aufzeichnungen zu stöbern. Schon oft habe ich dort Anfänge gefunden, die ich damals verworfen hatte und jetzt bearbeiten kann. Beleben. Ein Hauch Phantasie einsprühen.
Nein, heute will ich etwas Neues beginnen. Es gibt genug alte Geschichten, die bearbeitet oder ausgeweitet werden könnten. Doch da will mir schon lange nichts einfallen. In diese Sackgasse will ich mich heute nicht begeben.

Mir ist kalt. Der Tee bereits abgestanden und hilflos. Die Badewanne. Natürlich! In der Badewanne kommen mir immer Ideen, da hat man Zeit, wird nicht abgelenkt. Außerdem soll man nach dem Yoga baden. Steht überall geschrieben, ist gut für die Muskeln. Ein Entspannungsbad.
Ich lasse Wasser ein und putze nebenher das Bad ein wenig. Sauberkeit muss sein, ich muss mich wohlfühlen. Die totale Entspannung. Nur dann können die Gedanken fließen.
Das Wasser ist heiß und mein Körper braucht eine Weile, sich an die Temperatur zu gewöhnen. Dann wird mir warm, so warm, dass mir die Luft zum Atmen fehlt. Ich drehe etwas kaltes Wasser auf und hänge die Füße über den Wannenrand hinaus. Wenig später hat sich das Wasser so weit abgekühlt, dass es allmählich kalt wird. Mir fällt ein, dass ich noch in den Supermarkt muss, bevor der die Türen schließt. Am Abend kommt Besuch.
Ich beeilie mich aus der Wanne zu steigen, vergesse, dass ich vergessen habe, mich zu entspannen und ziehe mich an.

Vielleicht begegnet mir auf dem Weg zum Supermarkt eine Geschichte. Die Ideen liegen schließlich auf der Straße. Wann immer ich eine gute Geschichte lese, denke ich „natürlich, so einfach, hätte mir doch auch einfallen sollen“. Ist sie aber nicht.
Ich hoffe weiter. Auf eine skurrile Begegnung, auf ein interessantes Gespräch zwischen Fremden, ein Plakat mit bunten Bildern. Nichts.

Als ich mit Einkaufstaschen beladen die Treppen hinaufkeuche, rechtfertige ich meinen Tag. Ich habe entspannt, etwas Yoga gemacht, gebadet. Ein Tag der Muße, kann man sagen. Das ist wichtig. Und die Ideen, die werden wieder kommen. Morgen. In der U Bahn oder anderswo. Den Computer schalte ich ab, das Schreibprogramm fragt mich, ob ich meine drei Leerzeichen speichern möchte. Mit einem Ziehen im Magen sage ich nein. Nicht einmal ein Gedanken, den es zu speichern gibt. Mein Notizbuch liegt unberührt daneben und lacht mich aus.

Ich bereite das Abendessen vor und verliere mich immer wieder in der Frustration über die heutige Unfähigkeit des Schreibens. Ich frage mich, ob das die allgemein bekannte Schreibblockade ist. Bilder von einsamen Autoren in Lokalen mit Zigaretten im Mundwinkel und einer Flasche Wein als Gesprächspartner fallen mir ein. Aber ich bin ja noch nicht einmal Autor. Nicht offiziell.

Endlich klingelt es und meine Freunde sind da, um mich abzulenken. Sie fragen nach meinem Tag und ich berichte schwärmend von Entspannung und Gemütlichkeit. Schlucke die Unzufriedenheit mit einem Stück Weißbrot hinunter. Der Rotwein schmeckt und der Abend nimmt seinen Lauf.

Irgendwann kommt die Polaroidkamera auf den Tisch, wir verschießen zu viele Fotos und meine Freunde holen ihre Schnappschüsse der letzten Tage hervor. Während sie sich weiter in unmöglichen Positionen und Grimassen fotografieren, fällt mir eines der Fotos in die Hand. Ich trinke einen weiteren Schluck Rotwein und, wie es scheint, atme dabei den Hauch einer Idee ein. Schnell fülle ich das Glas nach, während meine Gedanken laufen, fast sprinten. Innerhalb weniger Minuten habe ich eine, wir mir scheint, grandiose Geschichte erfunden.
Meine Freunden öffnen eine neue Flasche Rotwein und ich hoffe, mich morgen noch an die Geschichte erinnern zu können.

polaroid von polaboid

SEiNE SCHUHE


Seine Schuhe standen noch da. Er stand nicht mehr, er saß auch nicht, er lag einfach nur dort am Boden und bewegte sich nicht. Das Blut hatte aufgehört zu fließen und Kälte war durch die offenen Wunden in seinen Körper eingezogen. Die Augen geschlossen lag er ruhig am Boden.
Sie saß neben ihm und wartete auf das Läuten der Klingel. Sie wollte nicht zusammenzucken, wollte sich nicht erschrecken. Nicht noch einmal heute. Sie hatte sich erschrocken, als sie ihn da liegen sah. Hatte für eine Sekunde geglaubt, er wäre nur gefallen und sie könne ihm helfen. Aber dann war ihr klar geworden, daß ihm nicht zu helfen war. Jahre hatte sie versucht ihm zu helfen. Und Jahre hatte sie versagt.

Nein, sie hatte nicht versagt. Das hatte ihr der Arzt immer wieder bestätigt. Und auch er. Sie hatte ihm nicht helfen können. Sie war machtlos.
Und nun saß sie hier, am Ende dieser langen Qual. Dem Langen Helfen und Versagen. Nein, nicht Versagen. Dem langen Nichtstun können.
Sie hatte noch nicht geweint, keine Träne war auf den Boden getropft. Sie hatte sich in den letzten Jahren ausgeweint und nun war sie ausgetrocknet, saß dort am Boden und betrachtete ihn.

Erleichterung spülte den Schmerz flußaufwärts. Dahin, wo die Tränen waren. Wo sie warteten, denn sie würden kommen, das wusste sie. Und sie hatte Angst davor. Angst vor dem Schmerz, der erst noch kommen würde.
Sie betrachtete sein Gesicht und erschrak. Sein Wesen verschwand mehr und mehr aus der leblosen Hülle aus Haut und Knochen. Sie war allein mit einer Leiche, einem leblosen Körper. Ganz allein. Ihr war kalt.
Das war also ihre letzte Erinnerung an ihn. Sein lebloser Körper am Boden. Blut auf dem Parkett. Sie zitterte. Stand auf und lief eilig durchs Zimmer, sah aus dem Fenster und erwartete blaue Lichter. Würden sie die Sirene überhaupt anschalten, sie hatte doch gesagt, dass er tot war. Es war doch nur eine Formalität, irgendjemand musste den Tod ja bestätigen. Irgendjemand musste ihn abholen. Er konnte doch hier nicht so liegen bleiben. Und wer würde das Blut wegwischen?
Ihr wurde schwindelig, doch ihr Puls raste. Sie atmete laut und zerstörte brachial die leblose Stille im Raum. Krampfhaft versuchte sie sich an den gestrigen Abend zu erinnern. An sein Lachen. Sie waren noch kurz unten im Lokal auf der anderen Straßenseite. Er hatte Lust auf ein Bier gehabt. Sein Letztes. Das wusste jedoch nur er. Sie hatten wenig geredet. Aber das war normal. Man musste nicht immer viel reden. Er schien erleichtert und froh, hatte behauptet, einen guten Tag im Büro gehabt zu haben. Er hatte viel erledigt, viel vom Schreibtisch gefegt, hatte er gesagt. Dann hatten sie sich vorgestellt, wie er mit einem alten Hexenbesen auf seinem Schreibtisch stand, umgeben von seinen Kollegen, die alle so düster und humorlos ihre Arbeit verrichteten. Dann hatten sie gelacht. Es war nicht wirklich lustig gewesen, aber sie hatten sich daran gewöhnt, über banale Dinge im Leben zu lachen. Damit sie das Lachen nicht vergaßen.

Sie versuchte, sich an sein lachendes Gesicht zu erinnern. Doch es gelang ihr nicht. Immer wieder drängelte sich die leblose Gestalt aus Haut und Knochen davor. Sie schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf und stöhnte kurz auf. Es durfte nicht sein. Das konnte nicht die letzte Erinnerung sein. Sie wollte zurück, wollte zu seinem Lachen zurück, es fotografieren und in ihrem Kopf abspeichern. Abrufbar auf Lebenszeit.
Sie rannte ins Schlafzimmer. Am Kleiderschrank hingen über zwei Dutzend Polaroids. Sie riß sie alle runter, eins nach dem anderen. Alle, auf denen er nicht lachte. Eines blieb hängen. Er lag am Boden und lachte und sie erinnerte sich an den Abend. Sie hatten viel gelacht. Viel getrunken und gelacht. Sie wusste nicht mehr worüber, aber sie wusste, dass er eine ganze Weile dort am Boden lag und nicht aufhören konnte zu lachen. Sie konnte dieses Foto nicht anrühren. Wie er da lag, so wie er jetzt im Wohnzimmer lag. Auf dem Boden. Leblos. Ein lachendes und ein lebloses Auge. Nein. Das Foto musste weg. Und so waren sie alle am Boden verstreut, zum Wegwerfen, die Fotos.
Keine lachende Erinnerung. Nur sie allein in der Wohnung mit einem leblosen Körper. Haut und Knochen.

Sie nahm ihre Reisetasche vom Schrank und begann zu packen. Sie konnte hier nicht bleiben. Nie mehr konnte sie hier sein. Sie musste die Wohnung, und alles darin wegwerfen. Alles würde eine letzte Erinnerung für sie sein. Das war nicht mehr ihre gemeinsame Wohnung, ihre letzten 5 gemeinsamen Jahre in dieser Stadt. Das war die Wohnung, in der sie ihn gefunden hatte. Diesen leblosen Körper. Sie musste weg.

Es klingelte. Sie zuckte zusammen. Verdammt, sie wollte doch nicht erschrecken wenn sie kamen.
Es ging alles ganz schnell. Der Arzt kniete nieder, fühlte hier und da, bestätigte den Tod und redete mit seinem Kollegen. Sie erklärten ihr den weiteren Ablauf der Dinge, wenig später klingelte es wieder und weitere Männer betraten die Wohnung. Sie legten den leblosen Körper in eine große Metallschale und trugen ihn davon. Der Arzt war noch da, fragte sie hier und dort zu unterschreiben und ob er etwas tun könne. Sie schüttelte den Kopf und weinte noch immer nicht.
Als alles vorbei war nahm sie ihre Tasche und ihren Schlüssel und ging zur Wohnungstür. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Seine Schuhe standen noch da. Sie hob sie auf und stopfte sie in ihre Reisetasche. Dann schloss sie die Tür.

polaroid by coleypj