Sunday, August 8, 2010

SEiNE SCHUHE


Seine Schuhe standen noch da. Er stand nicht mehr, er saß auch nicht, er lag einfach nur dort am Boden und bewegte sich nicht. Das Blut hatte aufgehört zu fließen und Kälte war durch die offenen Wunden in seinen Körper eingezogen. Die Augen geschlossen lag er ruhig am Boden.
Sie saß neben ihm und wartete auf das Läuten der Klingel. Sie wollte nicht zusammenzucken, wollte sich nicht erschrecken. Nicht noch einmal heute. Sie hatte sich erschrocken, als sie ihn da liegen sah. Hatte für eine Sekunde geglaubt, er wäre nur gefallen und sie könne ihm helfen. Aber dann war ihr klar geworden, daß ihm nicht zu helfen war. Jahre hatte sie versucht ihm zu helfen. Und Jahre hatte sie versagt.

Nein, sie hatte nicht versagt. Das hatte ihr der Arzt immer wieder bestätigt. Und auch er. Sie hatte ihm nicht helfen können. Sie war machtlos.
Und nun saß sie hier, am Ende dieser langen Qual. Dem Langen Helfen und Versagen. Nein, nicht Versagen. Dem langen Nichtstun können.
Sie hatte noch nicht geweint, keine Träne war auf den Boden getropft. Sie hatte sich in den letzten Jahren ausgeweint und nun war sie ausgetrocknet, saß dort am Boden und betrachtete ihn.

Erleichterung spülte den Schmerz flußaufwärts. Dahin, wo die Tränen waren. Wo sie warteten, denn sie würden kommen, das wusste sie. Und sie hatte Angst davor. Angst vor dem Schmerz, der erst noch kommen würde.
Sie betrachtete sein Gesicht und erschrak. Sein Wesen verschwand mehr und mehr aus der leblosen Hülle aus Haut und Knochen. Sie war allein mit einer Leiche, einem leblosen Körper. Ganz allein. Ihr war kalt.
Das war also ihre letzte Erinnerung an ihn. Sein lebloser Körper am Boden. Blut auf dem Parkett. Sie zitterte. Stand auf und lief eilig durchs Zimmer, sah aus dem Fenster und erwartete blaue Lichter. Würden sie die Sirene überhaupt anschalten, sie hatte doch gesagt, dass er tot war. Es war doch nur eine Formalität, irgendjemand musste den Tod ja bestätigen. Irgendjemand musste ihn abholen. Er konnte doch hier nicht so liegen bleiben. Und wer würde das Blut wegwischen?
Ihr wurde schwindelig, doch ihr Puls raste. Sie atmete laut und zerstörte brachial die leblose Stille im Raum. Krampfhaft versuchte sie sich an den gestrigen Abend zu erinnern. An sein Lachen. Sie waren noch kurz unten im Lokal auf der anderen Straßenseite. Er hatte Lust auf ein Bier gehabt. Sein Letztes. Das wusste jedoch nur er. Sie hatten wenig geredet. Aber das war normal. Man musste nicht immer viel reden. Er schien erleichtert und froh, hatte behauptet, einen guten Tag im Büro gehabt zu haben. Er hatte viel erledigt, viel vom Schreibtisch gefegt, hatte er gesagt. Dann hatten sie sich vorgestellt, wie er mit einem alten Hexenbesen auf seinem Schreibtisch stand, umgeben von seinen Kollegen, die alle so düster und humorlos ihre Arbeit verrichteten. Dann hatten sie gelacht. Es war nicht wirklich lustig gewesen, aber sie hatten sich daran gewöhnt, über banale Dinge im Leben zu lachen. Damit sie das Lachen nicht vergaßen.

Sie versuchte, sich an sein lachendes Gesicht zu erinnern. Doch es gelang ihr nicht. Immer wieder drängelte sich die leblose Gestalt aus Haut und Knochen davor. Sie schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf und stöhnte kurz auf. Es durfte nicht sein. Das konnte nicht die letzte Erinnerung sein. Sie wollte zurück, wollte zu seinem Lachen zurück, es fotografieren und in ihrem Kopf abspeichern. Abrufbar auf Lebenszeit.
Sie rannte ins Schlafzimmer. Am Kleiderschrank hingen über zwei Dutzend Polaroids. Sie riß sie alle runter, eins nach dem anderen. Alle, auf denen er nicht lachte. Eines blieb hängen. Er lag am Boden und lachte und sie erinnerte sich an den Abend. Sie hatten viel gelacht. Viel getrunken und gelacht. Sie wusste nicht mehr worüber, aber sie wusste, dass er eine ganze Weile dort am Boden lag und nicht aufhören konnte zu lachen. Sie konnte dieses Foto nicht anrühren. Wie er da lag, so wie er jetzt im Wohnzimmer lag. Auf dem Boden. Leblos. Ein lachendes und ein lebloses Auge. Nein. Das Foto musste weg. Und so waren sie alle am Boden verstreut, zum Wegwerfen, die Fotos.
Keine lachende Erinnerung. Nur sie allein in der Wohnung mit einem leblosen Körper. Haut und Knochen.

Sie nahm ihre Reisetasche vom Schrank und begann zu packen. Sie konnte hier nicht bleiben. Nie mehr konnte sie hier sein. Sie musste die Wohnung, und alles darin wegwerfen. Alles würde eine letzte Erinnerung für sie sein. Das war nicht mehr ihre gemeinsame Wohnung, ihre letzten 5 gemeinsamen Jahre in dieser Stadt. Das war die Wohnung, in der sie ihn gefunden hatte. Diesen leblosen Körper. Sie musste weg.

Es klingelte. Sie zuckte zusammen. Verdammt, sie wollte doch nicht erschrecken wenn sie kamen.
Es ging alles ganz schnell. Der Arzt kniete nieder, fühlte hier und da, bestätigte den Tod und redete mit seinem Kollegen. Sie erklärten ihr den weiteren Ablauf der Dinge, wenig später klingelte es wieder und weitere Männer betraten die Wohnung. Sie legten den leblosen Körper in eine große Metallschale und trugen ihn davon. Der Arzt war noch da, fragte sie hier und dort zu unterschreiben und ob er etwas tun könne. Sie schüttelte den Kopf und weinte noch immer nicht.
Als alles vorbei war nahm sie ihre Tasche und ihren Schlüssel und ging zur Wohnungstür. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Seine Schuhe standen noch da. Sie hob sie auf und stopfte sie in ihre Reisetasche. Dann schloss sie die Tür.

polaroid by coleypj

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