Sunday, August 15, 2010

iHRE HÄNDE


Als sie den aus dem Fahrstuhl hinaus auf den Gang zum Untersuchungszimmer traten schrie sie laut und schrill auf. Zerrte panisch an ihren Händen, die mit Lederriemen am Bett festgebunden waren. Je mehr sie versuchte sich loszureißen, desto panischer wurde sie. Desto lauter und schriller ihr Schreien.
Im Untersuchungszimmer waren drei Schwestern bemüht sie auf die Liege zu heben. Ein Arzt wusch sich die Hände mit Desinfektionsmittel. Die Tür wurde geschlossen. Anweisungen flogen durch den Raum. Wenig später wurde es still.

Greller Sonnenschein fiel auf das Bett und blendete sie noch bevor ihre Augen sich öffneten. Es schmerzte. Alles schmerzte. Hektisch hob sie ihren rechten Arm und betrachtete ihre Hand. Der Lederriemen war roten wunden Stellen gewichen. Spuren von Schmerzen und Angst. Erschöpft ließ sie die Hand sinken und schloss die Augen wieder.
Es klopfte an der Tür und noch ehe sie antworten hätte können stand die Stationsschwester bereits im Raum. Neben ihr ein junger Mann, auf dessen Kittel noch klar und deutlich der Name zu lesen war. Pfleger Stéphane. Das accent aigu mit Edding nachgezeichnet, bisher jedoch von niemandem beachtet. „Pfleger Stephan“ nannte ihn die Stationsschwester und die Härte, die dabei in ihrer Stimme mitschwang, unterstrich ihr Auftreten.
„Das ist Frau Finda.“ sagte sie mit ebensolcher Schärfe. „Sie ist - na sagen wir - kein leichter Fall. Nur so viel: Halten Sie Abstand, sonst schanppt sie zu!“ Lautes Lachen erklang hohl und blechern aus ihrem langen Hals. Stéphane lächelte unsicher mit. Frau Finda hielt weiterhin fest die Augen geschlossen.
Lange Minuten, nachdem die Stationsschwester und Stéphane den Raum verlassen hatten, war ihre Wut etwas verflogen und sie öffnete die Augen. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ihr war kalt. Sie stand auf und ging langsam hinüber zu dem kleinen Tisch, nahm die graue Strickjacke vom Stuhl und fühlte die Wolle sanft aber nachdrücklich, bevor sie ihre dünnen Arme hineingleiten ließ.

Auf dem Tisch standen eine neue Flasche Mineralwasser und ein sauberes Glas. Sie griff die Flasche mit beiden Händen und fuhr mit den Fingern das Plastik entlang. Zittrig drehte sie den Verschluss, rutschte einige Male ab, bis es laut zischte, Wasser über ihre Hand spritzte und die Flasche hinunter auf den Tisch tropfte. Dann stellte sie sie ab, nahm das Glas in beide Hände und hielt es so eine Weile bevor sie es ebenfalls auf den Tisch zurückstellte. Klebrige Fingerabdrücke zierten den Rand. Sie goß etwas Wasser in das Glas und hielt ihre linke Hand darüber. Wasserspritzer tanzten zart von unten gegen ihre Haut.
Ihr Blick wanderte aus dem Fenster hinaus in den Park und verlor sich dort im Grün der Bäume.
Als die Zeiger der Uhr über ihrem Bett auf zwölf sprangen, nahm sie ihren Zimmerschlüssel und ging hinunter in den Speisesaal. Er war noch menschenleer. Sie atmete auf.

Der Tisch vierzehn am Fenster war für vier Personen gedeckt, obwohl sich nie jemand zu ihr setzte. Sie mochten sie nicht. Sie war ihnen unheimlich.
Am Fenster nahm sie Platz, nachdem sie eilig mit ihren Händen über die Stuhllehne gefahren war, die Sitzfläche berührt hatte. Sowohl Gabel, Messer und Löffel als auch den leeren Teller fühlte sie ebenso hastig, aber nicht weniger inständig ab. Eine Schwester kam herbei und stellte eine Schale mit Suppe und einen Teller mit dem Hauptgericht auf den Tisch. Sie sagte kein Wort. Frau Finda bedankte sich nicht. Ein stummer Wortwechsel.
Die knochigen Hände der alten Frau legten sich um die warme Suppenschale. Sie schloss die Augen für ein paar Sekunden. Als sie Stimmen durch die Eingangstür zum Speisesaal kommen hörte, griff sie schnell zum Löffel und leerte die Schale. Das Hauptgericht ließ sie unberührt stehen und verließ den Saal durch den Hinterausgang. Zu dieser Zeit waren die Aufzüge viel benutzt, deshalb beschloss sie die Stiegen zu nehmen. Ein paar Mal atmete sie tief durch, dann ergriff sie mit beiden Händen das Metallgeländer und begann sich Stufe für Stufe hinaufzuziehen. Im zweiten Stock trat Pfleger Stéphane aus dem Gang ins Stiegenhaus. Als er Frau Finda sah, kam er sofort herüber, wollte ihren Arm ergreifen und sagte „Ich helfe Ihnen.“
Sie zuckte zusammen, streckte ihre Hände nach ihm aus und berührte ihn dabei unsanft im Gesicht.
„Nein. Ich schaffe das schon.“ Ohne ihn anzusehen zog sie sich weiter langsam die Stufen hinauf.
„Ich schaffe das schon.“
Stéphane sah ihr nach. Erschrocken. Verunsichert.
„Ich schaffe das schon.“ hörte er sie ein letztes Mal sagen, dann verschwand sie im Gang auf der dritten Etage. Die Tür fiel laut ins Schloss.

Einige Tage später begegnete Stéphane Frau Finda im Park hinter dem Haus. Er stand etwas entfernt vom Hauseingang und rauchte, als sie den engen Weg zwischen den Blautannen entlangspazierte. Es hatte kurz zuvor geregnet. Weiche Tropfen lagen auf den Tannennadeln und drückten das grüne Kleid schwer nach unten. Immer wieder blieb sie stehen und berührte die Tannennadeln, sah zu, wie die Tropfen zu Boden fielen. Sie lehnte sich nach vorn und versuchte die feuchten schweren Tannenzapfen zu berühren. Es war in diesem Moment, als er begriff. Die Zartheit ihrer Hände erkannte, die Zartheit ihres Wesens.
Er ging langsam zu ihr hinüber, trat ganz leise an ihre Seite und schob seine Hand sanft über ihre. So sanft, dass sie vor Erstaunen und Unbehagen weder zuckte noch erschrak. Ein paar Sekunden, die ihr endlos erschienen, ließ er seine Hand auf ihrer verweilen. Dann schob er sie über die Tannenzapfen, die sie zuvor nicht erreicht hatte, während er mit der anderen Hand ihre rechte Schulter hielt, so dass sie das Gleichgewicht nicht verlor.
„Ich mag den Geruch von warmem Regen in der Luft, Sie nicht auch?“ sagte er leise. Sie hielt inne. Schaute ihn nicht an, bewegte sich nicht. Dann nickte sie, löste sich aus seinen Berührungen und ging ins Haus zurück. Ihre Augen so feucht wie Tannennadeln nach dem Regen.

Am Abend, als es an ihrer Zimmertür klopfte, dauerte es, bis jemand eintrat.
„Frau Finda? Ihre Medikamente.“ Die Stimme warm und sanft. Ein Lächeln.
Sie schaute Stéphane an und nickte. Der Gesichtsausdruck unverändert. Er stellte ein Glas Wasser auf ihren Nachttisch und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen, jede ihrer Bewegungen ohne sich zu wehren. Er ließ die Pillen aus dem kleinen Becher in ihre Hand gleiten und schloss sie. Dann reichte er ihr das Wasserglas. Sie warf die Pillen in ihren Mund, griff vorsichtig nach dem Glas und hielt es eine Weile in ihrer Hand, fuhr mit dem Zeigefinger den Rand entlang. Stéphane wartete geduldig bis sie die Pillen mit dem Wasser hinuntergespült hatte. Dann fragte er, ob sie noch etwas brauche. Sie verneinte.
„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.“ sagte er und schloss leise die Tür.

Als am nächsten Morgen um sechs Uhr die Zimmertür aufflog, eine Hand unsanft auf den Lichtschalter knallte und grelles Licht den Tag begrüsste, erwachte sie aus einem tiefen Schlaf und erschrak. Die Angst, nur geträumt zu haben, lähmte sie und für Stunden verließ sie das Bett nicht. Die Leere ihres Magens führte sie am Nachmittag auf die Toilette und vermischte sich mit Spülwasser. Sie begann zu zittern. Plötzlich schien ihr das Leben in diesem Haus nicht mehr möglich. Stéphane hatte ihr Verständnis geschenkt, das sie nicht kannte und ohne dem sie sich mit dem Alltag hier arrangiert hatte. Jetzt jedoch war ein Funken Hoffnung lodernd entfacht und sie konnte nicht mehr zurück. Wenn all das nur ein Traum gewesen war, so wollte auch sie nichts weiter tun als träumen. Traurig und erschöpft schlief sie ein.
Gegen Abend klopfte es an der Tür. Wieder dauerte es, bis jemand eintrat.
„Guten Abend Frau Finda.“ Als sie die Stimme Stéphane‘s erkannte fühlte sie Erleichterung gefolgt von einem Schwall an Tränen in ihren faltigen Lidern. Sie lächelte. Stéphane lächelte zurück, erfüllt von dem Gefühl, dass seinen Beruf zu seinem Lebensinhalt werden ließ.
„Ihre Medikamente.“ er hielt ihr den kleinen Becher mit den Pillen und das Glas Wasser hin. Sie wiederholten das Spiel vom Vorabend. Nur legte sie diesmal ihre linke Hand auf seine Hand, die ihre wiederum umschloss. Eine Weile saßen sie so da.
„Danke.“ sagte sie leise und erschrak über ihre kratzende Stimme. Den ganzen Tag hatte sie nicht gesprochen. An allen anderen Tagen redete sie ebenfalls wenig. Sie hatte vergessen wie es war, ein längeres Gespräch zu führen. Auch wenn die letzten Begegnungen mit Stéphane keine wirklichen Gespräche waren, so fühlten sie sich doch dem näher als allen anderen kurzen Wortwechseln der letzten Monate.
Als Stéphane aufstand und das Zimmer verlassen wollte, nahm sie allen Mut zusammen uns rief leise „Stéphane?“
Er drehte sich um und schaute sie fragend an.
„Der Regen!“ sagte sie und zeigte zum Fenster. Den ganzen Tag über hatten dunkle Wolken das Haus verhangen. Schwere Tropfen klopften in rhythmischem Tempo gegen die Fensterscheiben.
Stéphane schaute hinaus, nickte und verstand. Er schob den Nachttisch beiseite und ging am Bett der alten Frau vorbei zum Fenster. Der Griff ließ sich nur schwer drehen, Dichtungsgummis klebten zusammen und quietschten, als er die Rahmen voneinander trennte. Kühler Wind verwehte die alte vertrocknete Luft im Raum. Er ging zurück zu ihrem bett und reichte ihr seinen Arm. Sie ergriff ihn mit beiden Händen und streichelte ihn sanft von unten nach oben. Er wusste, dass es eine Mischung aus ihrer zwanghaften Berührung der Dinge und der Sehnsucht nach Zuneigung war und ließ es geschehen. Dann half er ihr aus dem Bett hinüber zum Fenster. Dort ergriff er wie schon am Tag zuvor ihre Schulter und führte ihre Hand hinaus in die Abenddämmerung. Dicke Regentropfen fielen auf die verwelkte Haut. Sie schloss die Augen und lächelte. Glückseligkeit ließ sie für einen Moment taumeln. Dann führte Stéphane sie zurück zu ihrem Bett und verabschiedete sich für die Nacht.

Die nächsten Tage vergingen voller Hoffnung und Erwarten der Abende. Pfleger Stéphane hatte ihr in kurzer Zeit das gesamte Haus und das Leben darin näher gebracht. Er lief mit ihr abends, wenn die meisten anderen Bewohner schon schliefen, die Gänge auf und ab, besuchte die Untersuchungszimmer und Werkstätten, den Schwimmbereich und die Küche und half ihr, sich ihr Leben der letzten Jahre zurückzuertasten. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie jeden Abend seine Arme berührte und ihm hin und wieder dankbar über sein Haar strich.
Sie sprach nicht viel und so war er es, der ihr alles erklärte und Geschichten erfand. Hin und wieder lachte sie sogar laut.

An einem Abend, nachdem sie wieder lange durch das Haus spaziert waren, begegneten sie zwei anderen Bewohnerinnen. Dass Frau Finda lachte und sich von Pfleger Stéphane am Arm führen ließ erkannten sie sofort als ungewöhnlich. Erstaunte Blicke folgten ihnen durch den Gang. Stéphane glaubte ein siegreiches Lächeln im Blick von Frau Finda zu erkennen.
„Dieser Hut.“ sagte sie. „Dieser lächerliche blaue Hut.“ Daraufhin lachte sie wieder laut. Auch Stéphane lachte. Er wusste sofort, was sie meinte und für ein paar Minuten verloren sich beide in schallendem Gelächter.

Ein paar Wochen später spürte Stéphane, dass Frau Finda wieder ruhiger wurde. In sich verschlossener. Sie lachte weniger. Verschluckte Sätze. Ein Blick in die Kalender und Patientenberichte verriet ihm, warum. Die Operation. Er wusste von ihrer Krankheit, das gehörte zu seinem Job. Aber er hatte nie mit ihr darüber gesprochen und er fragte sich, was er tun könnte, um ihr diesen Schritt zu erleichtern. Eines Abends hatte er eine Idee.
Er klopfte an ihre Zimmertür und sie schaute ängstlich, als diese sich langsam, aber von klapperndem Geräusch begleitet öffnete. Stéphane trat ein mit einem Tablett voller Operationsbesteck. Er nahm einen Stuhl und setzte sich an ihr Bett. Dann gab er ihr ein stählern blinkendes Werkzeug nach dem anderen und erklärte ihr, was damit getan werden würde. Ihre Hände zitterten und er wusste, dass sie Angst hatte. Um die Wortstille im Raum, der nur vom Klappern der Instrumente erfüllt war, zu unterbrechen, begann er, ihr den Operationssaal zu beschreiben. Die Farben der Wände, die Geräte, Waschbecken, den Untersuchungstisch bis hin zur Aufstellung der Pfleger, Schwestern und Ärzte darum. Sie hörte ihm geduldig zu, schloss hin und wieder die Augen und atmete tief durch. Erst als er begann, ihr von den Monitoren, den einzelnen Linien und Zahlen darauf zu erzählen und am Ende sogar den Defibrillator erwähnte, schaute sie ihn mit starrem Blick an und schüttelte den Kopf. Er hielt inne und las in ihren Augen. Dann nickte er und verstand.
Er sammelte alle Instrumente wieder auf das Tablett, wünschte ihr eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
In den nächsten Tagen vor der Operation gingen sie immer seltener im Haus spazieren, auch Stéphane war nervös. Er hatte sich an diese Frau gewöhnt. Sie gehörte so sehr zu seinem Job wie die Müdigkeit der Nachtschicht.

Am Tag ihrer Operation hatte er frei und betrat dennoch das Haus. Vor der Tür zum Operationsbereich, der nur für Personal zu betreten war, wartete er auf sie. Zwei Schwestern fuhren sie auf einem breiten Bett den Gang entlang. Sie hatte bereits den Körper voll Beruhigungsmittel gespritzt und schaute leer an die an ihr vorüberziehenden Neonlichter.
„Frau Finda!“ rief er leise. „Schauen Sie!“
Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. Ausdruckslos. Er nahm ihre Hand und legte etwas großes Weiches hinein. Sie verdrehte den Kopf soweit, dass sie erkennen konnte, was es war. Verschwommen erkannte sie etwas Blaues und ein paar Sekunden später hatten ihre Gedanken den Weg durch den Nebel aus Beruhigungsmitteln gefunden. Sie lächelte. Zu mehr war ihr Körper nicht fähig aber er wusste, dass sie innerlich mit einem lauten Lachen in den Operationssaal fuhr.

polaroid by Nadine Hilmar (my alltime favourite fade to black!)

No comments:

Post a Comment