Tuesday, August 10, 2010

DAS FENSTER


Es war der elfte Tag nach ihrem Tod. Ihr Körper war bereits in einen Holzsarg gekleidet tief in der Erde versunken. Blumen würden das Grab hüten. Verwelkt und braun allmählich, die Schleifen an den Kränzen in Windrichtung zerrissen. Grab Nummer neunzehn, Reihe acht gleich hinter der alten Eiche links. Nicht weit von den Gießkannen. Das war praktisch im Sommer, wenn es wenig regnete. Regen.
Wann würde es wieder regnen? Er sah vom Bett aus durch das Fenster der grauen Nebelwand entgegen. Dunkle Wolken, die mächtig und träge anrückten, jedoch den Regen unterwegs verloren hatten. Seit Tagen Nebel und grau. Etwas Wind, der durch die undichten Fenster pfiff. Sonst nichts.
Er schlug die Decke zurück, ließ ein Bein aus dem Bett gleiten, zögerte noch einen Moment schob dann das Zweite nach und stand auf. Einen Augenblick blieb er stehen, hielt sich den Kopf und ging dann langsam durch das Zimmer. Aus dem Schubfach im Schreibtisch zog er das Notizbuch hervor, schlug es am roten Faden auf und nahm vorsichtig das Polaroid heraus. Er betrachtete es eine Weile, hielt es dann vor sich Richtung Fenster und schaute so eine Weile auf das Bild und an dem Bild vorbei aus dem Fenster. Bild. Fenster. Bild. Er schüttelte den Kopf und legte das Foto zurück in das Notizbuch, schlug es zu und legte es zurück in das Schubfach im Schreibtisch. Ihm war kalt.

Im Flur zog er das Handtuch von der Heizung und ging ins Bad. Über dem Spiegel hing ein Foto von ihm. Er nahm es, hielt es neben sich und betrachtete so sein Gesicht und das auf dem Spiegelbild des Polaroids. Er musste sich rasieren, sonst würde die Ähnlichkeit verschwinden.
Das Handtuch ließ er auf den Boden gleiten und stieg in die Dusche. Während das Wasser auf Erwärmung wartete, putzte er sich die Zähne. Rasch, ohne Gründlichkeit, aber umso heftiger. Ein wenig Blut vermischte sich mit der Zahnpasta. Er spuckte es an sich vorbei in den Ausfluß und steckte die Zahnbürste hinter die alten Shampooflaschen. Das Wasser wurde warm genug, um den Kopf darunter halten zu können ohne dabei Kopfschmerzen zu bekommen. Mit wenigen Handgriffen seifte er sich ein, griff dann zum Rasierer und schob ein paar schwarze Stoppeln von der Haut in seinem Gesicht. Ein letztes Mal wandte er seinen Kopf in den schwachen Wasserstrahl, dann drehte er an dem verkalkten, quietschenden Rad und schob den Duschvorhang beiseite. Das vom Vortag noch etwas feuchte Handtuch überhäufte ihn mit Kälte und Einsamkeit.
Ohne noch einen Blick in den Spiegel zu werfen fuhr er mit den Händen ein paar Mal durchs Haar und zog sich an. Im Flur hing er das Handtuch zurück über die Heizung. Der Heizkörper war kalt, es war Juni. Doch der Nebel und die feuchtkalte Luft ließen die Wäsche nur langsam trocknen. Aber wo sollte er das Handtuch sonst hinhängen. Das war nunmal der Platz dafür. Schon immer gewesen.

In der Küche ließ er den Wasserkocher bis zum Maximumstrich vollaufen und schaltete ihn an. Als er die Teeschachtel vom Regal nahm, fiel der letzte Teebeutel heraus. Er hatte es kommen sehen, hatte die letzte Packung vor einer Woche geöffnet und festgestellt, dass ihm der Tee ausging. Aus der Teekanne nahm er den alten Teebeutel und hängte ihn an die Schnur, die er vom Regal zum Küchenschrank gespannt hatte. Dort hingen bereits achtzehn weitere Teebeutel. Einige davon bereits getrocknet, die letzten neben dem Heutigen noch etwas feucht. Alle trugen sie braune Flecken und sahen ihn mit tiefer Traurigkeit an.
Er warf den letzten noch unbenutzten Teebeutel in die Kanne und wartete darauf, dass das Wasser kochte, lauschte dabei dem beruhigenden Gurgeln und Zischen, bevor der Hebel des Kochers nach oben schnappte. Leise lief das heiße Wasser in die Teekanne und ließ sich vom Teebeutel mit Geschmack betupfen.
In der Abwasch stand eine blaue Schale, die er kurz mit kalten Wasser ausspülte und auf den Tisch stellte. Das dumpfe Geräusch von Keramik auf Holz. Aus der Müslipackung schüttete er etwas in die Schale und setzte sich. Die Milch war ihm vorgestern ausgegangen. Seitdem aß er das Müsli trocken und trank dazu den heißen Tee. Ihm wurde allmählich wärmer.
Draußen hatte sich die Nebelwand näher an das Haus herangeschoben.
Als er die Schale geleert hatte stellte er sie zurück in die Abwasch. Dann nahm er die Teekanne, seine Tasse und ging über knarzende Holzdielen hinüber ins Wohnzimmer. Er schaute sich kurz um. Nichts hatte sich hier verändert.
Auf dem Sofa lag noch immer die Decke zurückgeschlagen über der Lehne. So wie die Männer, die vor elf Tagen ihren Leichnam abgeholt hatten, sie hinterlassen hatten. Drei Stunden nachdem sie heimgekehrt waren und sie erschöpft zusammenbrach. Nie wieder erwachte. Es war ihr letzter Spaziergang und sie hatten es gewusst. Ein letztes Mal wollte sie hinaus und den Regen spüren.
Sie hatten wenig gesprochen, überhaupt in den letzten Tagen und Wochen vor ihrem Tod hatten sich Worte und Sätze in seinen Kopf eingefressen, waren steckengeblieben. Fanden den Ausgang nicht. Sie hatte verstanden und war dankbar, denn ihr fehlte allmählich die Kraft um zuzuhören und selbst Sätze zu formen. Auf dem Spaziergang hatte sie sich sehr angestrengt, versucht ihm tief in die Augen zu schauen und langsam die Lippen bewegt. Sie hatte ihn gebeten er möge nicht um sie trauern, auch wenn sie wusste, dass er es tun würde. Umso mehr hatte sie ihn angefleht so zu bleiben, wie er war. Wundervoll, sagte sie immer wieder. Dass sie ihn liebte, dass hat sie nicht geschafft zu sagen, aber dass sie sich wünschte, er würde nichts an sich ändern. Niemals. Und wenn sie eines Tages irgendwo beide... Den Satz hatte sie auch verschluckt, er kam ihr albern vor. Sie glaubten nicht an etwas davor oder danach und die leise Hoffnung, die in ihr schlummerte, trug sie allein mit sich in den Tod.
Er hatte nur genickt und die Augen auf den kalten Asphalt gerichtet. Im selben Augenblick hatte er beschlossen, so zu leben, als würde diese Tag nie zu Ende gehen. Zu Hause hatte er mit seiner alten Sofortbildkamera das Fenster und die Aussicht fotografiert. Im gleichen Moment hatte er sie im Wohnzimmer zu Boden fallen gehört.

Er stellte die Teekanne auf den Tisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Einen Moment schloss er die Augen, legte den Kopf zurück und atmete tief ein. Er schluckte. Nein, er durfte nicht trauern. Sie hatte ihn darum gebeten und so schlug er eines der Bücher auf, die neben ihm auf dem Boden lagen und verschwand in eine andere Welt. Die meisten der Bücher im Regal gehörten ihr. Er hatte nie daran gedacht sie zu lesen, bis zu ihrem Tod, als er beschloss, das Haus erst wieder zu verlassen, wenn es wieder regnete. Wenn der Himmel wieder die Färbung annahm, wie er sie eingefangen hatte auf dem Polaroid in seinem Notizbuch im Schreibtisch. In dem Moment, als das Leben aus ihrem Körper schlich.
Nichts wollte er ändern. Weder sich, noch die Welt.
Die Bücher halfen ihm. Er konnte die Zeit vergessen und die Tage vergingen. Leben drehte sich auf Welten, ohne dass sich in seinem etwas änderte.
Hin und wieder legte er eine alte Schallplatte auf, dann, wenn eine Notiz von ihr dazu im Buch stand. Er hatte nicht gewusst, dass sie manche Lieder Situationen in ihren Büchern zugeordnet hatte. Doch als er den Verbindungen folgte, ergaben Text und Musik oft einen ganz neuen Sinn. Oft las er Seiten mehrmals, bevor er die Musik dazu auflegte. Dann war er überrascht und erstaunt, was sie in den Zeilen las, die er soeben scheinbar trocken und spröde verschluckt hatte. Erst jetzt lebten sie auf und bekamen Gefühl.
Nach einigen Tagen wagte er es, selbst Musik zu wählen, die das Lesen begleitete. Stunden konnte er so verbringen ihre Welt, seine Welt und die Welt der Bücher miteinander zu verstricken. Dann vergaß er zu Essen oder zu Trinken und oft auch, das Licht anzuschalten. Erst als die Buchstaben die Dunkelheit umarmten, bemerkte er, dass wieder ein Tag vergangen war.

Fast einen Monat nach ihrem Tod erwachte er und erschrak. Es war 4 Uhr morgens und der Himmel war leicht gerötet. Eine Wolke zog hastig über den Dächern Richtung Osten und der Geruch von anreisendem Regen lag in der Luft. Es schien, als wäre dies der erste Tag, an dem er das Haus verlassen könnte. Ein Blick auf das Polaroid in seinem Notizbuch bestätigte seinen Verdacht und als es wenig später anfing zu regnen, zog er seine braunen Lederschuhe an und verließ die Wohnung. Ohne Ziel ging er auf die Straße und atmete tief ein. Ihm war schwindelig.
Stundenlang lief er umher bis er vor einem Geschäft stehenblieb und erschrak. Sein Spiegelbild im Schaufenster betrachtend stand er so eine Weile und suchte sich selbst darin. Die Person, die er anstarrte war nicht nur dünn, sondern mager, das Gesicht eingefallen und die Hände lang und knochig. Panik überfiel ihn. Das war nicht die Person, die vor einem Monate versprochen hatte, nichts an sich zu ändern. Das war eine fremde Gestalt aus Haut und Knochen. Ein Geist. Er sank vorsichtig zu Boden, streckte die Beine von sich und vergrub den Kopf in seinen Händen. Und je mehr er nachdachte und realisierte, was mit ihm geschehen war, umso mehr begriff er, dass es nicht nur die Gestalt war, die so rasche Veränderungen erlitten hatte.

polaroid by dfuster74

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