Sunday, August 8, 2010

SiEBEN STATiONEN


Es schien, als hätte sich die Welt in sich selbst verdreht. Verzweifelt hielt er inne, zum, wie es schien, hundertsten Male. Erneut strengte er sich an seinen Ohren zu vertrauen. Auf der Suche nach bekannten Geräuschen, messbaren Empfindungen. Nichts.
Erneut sank er zu Boden und berührte den Moment der endgültigen Verzweiflung. WO WAR ER ???

Es war Schwester Anna, die ihn zum ersten Mal hierhergeführt hatte. Er hatte rebelliert und sich geweigert, so wie er gegen alles rebelliert hatte. Damals. Nach dem Unfall. Doch sie hatte darauf bestanden und ihn erpresst. Sie hatte mit einer Umlegung in ein anderes Zimmer gedroht. Hinüber zu Franz, dem Selbstmörder, der jetzt querschnittsgelähmt in seinem Bett lag und unaufhörlich röchelte. Als Franz dachte, sein Leben könnte nicht mehr schlimmer kommen und es beenden wollte, kam es noch schlimmer. Die Geschwindigkeit nicht hoch genug. Um wenige Zentimeter die Mauer verfehlt. Jetzt war er nicht nur am Ende, sondern auch noch unfähig, dem Ende ein Ende zu setzen.
Niemand konnte mit ihm ein Zimmer teilen. Schwester Anna wusste das und nutzte es schon seit längerem als Druckmittel bei den Patienten. Es war nicht fair, aber mit Fairness erreichte sie selten Einsicht und im Nachhinein half es ihnen. Auch wenn sie es erst später merkten. Sehr viel später. So wie Paul.

Paul war ihr also gefolgt. In den Park. Sobald sie das Gebäude verlassen hatten, war er auf sie angewiesen. Nur wenige Wochen ohne Augenlicht ließen ihn noch sehr fragil durch die laute dunkle Welt stolpern. Sein Stock schien ihm ein ständiger Dorn, mit dem er hier und da anstieß ohne dabei einen Weg zu finden. Er war verzweifelt, frustriert und müde. Müde von der Dunkelheit. Von dem unaufhörlichen Lärm. Von seinem eigenen Mitleid. Er verlor sich jeden Morgen erneut in der Unfähigkeit, den Tag als solchen zu begrüssen. In der Frage nach dem Warum und und dem unerträglichen Was-wäre-Wenn-Spiel.
Und so folgte er Schwester Anna, schimpfte unaufhörlich und erklärte ihr, was für ein unmenschliches Wesen sie sei.

Er stolperte beim Einstieg in die Straßenbahn und hörte nicht auf Annas Anweisung, zukünftig den Ansagen zu lauschen, wenn er allein war. Um sich nicht zu verfahren. Er musste lernen, ohne lesbare Fahrpläne auszukommen. Er würde nie mehr mit der Straßenbahn fahren, hatte er bockig gesagt und heimlich die Stationen gezählt.
Als sie ausstiegen stieß er sich den Kopf und begann von neuem zu schimpfen. Er spürte nicht die Sonne, die ihm auf den Rücken fiel. Er hielt einfach nur Annas Hand und folgte ihren kurzen Schritten.
Wenig später sanken seine Füsse vom Kies in ein weiches Rasenbett. Er fragte, wo sie seien, doch erhielt keine Antwort. Ob sie nun nicht mehr mit ihm rede, fragte er. Ob sie ihn nun aussetzen wollte. Das wäre ihm nur recht, dann bräuchte er nicht mehr ihren dummen Anweisungen zu folgen. Dann könnte er irgendwo sitzen und elendig zu Grunde gehen. Das hatte er ja scheinbar verdient. Warum sonst stolperte er plötzlich durch dieses Dunkel tagein tagaus?

Sie ließ seine Hand los und er blieb stehen. Er schimpfte weiter, denn sie sagte nichts. Laut begann er sich von Neuem in seinem Selbstmitleid zu verfangen. Stieß wütend mit dem Stock in den Boden, der dort steckenblieb und fast zerbrach. Noch wütender darüber beschwerte er sich, was das für ein Leben sein würde im Dunkeln angewiesen auf einen Stock, der im ersten Rasen steckenblieb.
Erst als er sein tägliches Programm an Beschwerden heruntergewettert hatte, rief er nach Anna. Fast panisch schrie er laut, als sie nicht gleich antwortete.
„Ich bin hier unten“ antwortete sie leise.
„Was tust Du da?“ fragte er, während er sich erschöpft neben sie fallen ließ. Sie antwortete nicht und so schloss er die Augen und beruhigte seinen Atem. Er hatte sich viel zu sehr aufgeregt. Er spürte einen harten Gegenstand im Rücken und erschrak bis er bemerkte, dass es ein Baumstamm war. Vorsichtig lehnte er sich dagegen.

Eine Weile saßen sie so da. Beide sahen sie Richtung Himmel, doch keiner schaute wirklich hinauf. Anna nicht, weil sie die Augen geschlossen hielt. Paul nicht, weil er es nicht konnte.
„Das ist wunderschön“ flüsterte er plötzlich, als hätte er einen hohen Berg erklommen und auf dem Gipfel die Aussicht ins Tal erspäht.
Anna lächelte.
„Es ist so ruhig.“
Sie nickte zustimmend, auch wenn er das nicht sehen konnte.
„Danke.“
Die nächste Stunde sagte niemand ein Wort. Bis die Sonne verschwand und der Wind kühl die Haut streifte.
„Sollen wir gehen?“ fragte Anna.
„Sieben Stationen bis zum Stadttor“ sagte Paul und lächelte. Anna zog den langen weißen Stock aus der Erde und legte ihn vorsichtig in Pauls Hand. Zum ersten Mal riss er ihn nicht wütend an sich wie ein bockiges Kind, dem man sein Spielzeug gab.
Schweigend gingen sie zurück.

Danach war Paul fast täglich hier hinausgefahren. Es war seine Oase mitten im Lärm der Stadt. Wie ein Tagebuch, dem er sich öffnen konnte, vertraute er dem Rauschen der Blätter der alten Eiche seine Gedanken an. Fuhr mit den Fingern die Rinde des alten Stammes entlang und tankte Ruhe. Er hatte sich an den Stock gewöhnt und die Dunkelheit, an das Herunterschmeißen von Gegenständen. Aber an den Lärm konnte und wollte er sich nicht gewöhnen. Es schmerzte in seinen Ohren und verwirrte ihn. Nahm ihm jegliche Orientierung in der Welt.

Doch heute war es so ruhig hier draußen wie immer. Dennoch war alles anders.

Es war ein ganz normaler Dienstag. Novembergrau lag ihm die Kühle Stadtluft in der Nase. Er hatte pünktlich um eins die Wohnung verlassen und hatte die Friedrichstraße an der Kreuzung Sägemühlengasse überquert. Die Bauarbeiter zwei Häuser weiter begaben sich zurück auf die Baustelle. Er konnte sie noch riechen. Zigaretten, Kaffe und Bratwurst. Er hoffte sie würden bald fertig sein mit den Arbeiten. Er mochte ihren Geruch nicht. Und den Lärm.
Mit der Ubahn war er drei Stationen bis zum Stadttor gefahren und dann mit der Straßenbahn bis zum Volksgarten. Er war ausgestiegen und eine Weile geradeaus gegangen. Dann bog er nach rechts und lief weiter, bis er mit dem Stock gegen eine Rasenkante stieß. Etwas früher als sonst aber er war auch schneller gegangen. Wegen der Kälte. Der Rasen war kalt und knisterte unter seinen Füßen. Der erste Frost. Dreiundzwanzig Schritte geradeaus und dann nur sieben nach links. Normalerweise hörte er den Baum bereits vorher im Wind singen. Doch heute war es unglaublich still. Er lief, seine Schritte zählend, umher. Erst im Viereck, dann wild im Kreis bis er ganz aufgab die Schritte zu zählen. Immer weiter lief er. Immer schneller. Nichts. Kein Baum. Er spürte, wie er mitten auf einer großen Wiese stand und die Welt ihm dabei zuschaute. Ihn auslachte. Tränen schossen ihm in die Augen. Er versuchte den Geräuschen, die von der Straße herdrangen, zu lauschen. Doch sie waren zu weit weg.

Verzweifelt gab er auf. Er beschloss, den Rasen entlangzugehen, bis er an die Kante stieß und dann einen Weg zurück zur Haltestelle zu finden. Erstaunlicherweise gelang ihm das recht schnell. Er verstand nur noch immer nicht, warum er den Baum nicht finden konnte und sich so einsam auf dem Rasen verlor.
Er ging geradeaus und dann links. Hörte den Verkehr schon sehr bald und folgte den Geräuschen der kommen und fahrenden Straßenbahnen. Zitternd und frierend stand er an der Haltestelle und spürte die Blicke der anderen Personen sich in seine Schulter bohrend. Er verstand die Welt nicht und fühlte den Boden unter seinen Füßen sich schnell drehen wie ein Karussell als er daran dachte, seine Kraft, seine Ruhe, seine Oase verloren zu haben. Es war, als würde er sein Augenlicht ein zweites Mal verlieren. Ihm war schlecht.

Eine Straßenbahn kam und er stieg vorsichtig ein, klammerte sich an einer der Haltestangen fest und betete, nicht zusammenzubrechen. Ruckartig fuhr die Bahn los und bog kurze Zeit später um eine Ecke. Pauls Herz sank tiefer. Das tat sie sonst nie. War er gänzlich auf einem anderen Planeten gelandet ?
„Nächster Halt: Volksgarten, Tor fünf“ meldete eine laute Frauenstimme.
Paul schaute auf ohne zu wissen wohin. Er fragte hastig in die Bahn hinein, ob das wirklich Tor sechs war, an dem sie soeben losgefahren waren. Ein paar Fahrgäste nickten, besannen sich dann, dass er das nicht sehen konnte und stimmten ihm laut und deutlich zu.
Paul begann zu lachen. Laut lachte er, bis ihm die Tränen erneut die Wangen hinunterrannen. Die anderen Fahrgäste schauten ihn fragend an, schüttelten die Köpfe. Eine ältere Dame setzte sich ein paar Sitze weiter entfernt hin und brummte etwas in ihren dicken Schal.
„Verzählt!“ brachte er nur schwer atmend zwischen neuen Lachanfällen hervor. „Ich habe mich einfach verzählt!“

polaroid von coleypj

No comments:

Post a Comment